„Stern von Laufenburg“ – Drohen der Schweiz Blackouts?

Strom gehört zu den Selbstverständlichkeiten, die wir in unseren Alltag gar nicht erst einplanen. Er fliesst uns ohnehin zu und die Welt hinter der Steckdose ist weit weg. Tatsächlich täuscht die Idylle: Ob in der Schweiz ausreichend Strom vorhanden ist, hängt vom Austausch mit den Nachbarn ab. Doch die umstrittenen Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU belasten auch die Energiefrage. Gibt es keine neuen Vereinbarungen, droht die Schweiz vom europäischen Energiemarkt abzudriften. Die Versorgungssicherheit und die Ziele für einen tieferen CO2-Ausstoss wären gefährdet.

Yves Ballinari | 15.07.2020

Bild von Fré Sonneveld auf Unsplash

In der Vorstellung ist das Leben auf einer einsamen Insel mit malerischen Bildern verbunden. Wenn man auf einer lebt, stellen sich dagegen alltägliche Fragen. Woher der Strom kommt, zum Beispiel. In der Realität gibt es keine Insel, die nicht auf die Energieversorgung durch Nachbarn angewiesen ist. Das gilt besonders für die Schweiz. Lange bevor sie sich mit der EU über den freien Personenverkehr einigte, hatten beide den Fluss von Strom über die Grenzen hinweg geregelt. Mit der Schaltanlage, dem „Stern von Laufenburg“, auf der Schweizer Seite des Rheins war es vor 62 Jahren erstmals möglich, die Stromnetze von drei Ländern – der Schweiz, Deutschland und Frankreich – zusammenzuschalten. Das waren die Ursprünge des europäischen Verbunds. Inzwischen ist er der weltweit grösste seiner Art: Mehr als 500 Millionen Menschen in 30 Ländern beziehen darüber ihren Strom.

„Mit der Schaltanlage „Stern von Laufenburg“ war es vor 62 Jahren erstmals möglich, die Stromnetze von drei Ländern – CH, DE und FR– zusammenzuschalten.“

Geben und Nehmen halten das System in der Balance und die Schweiz spielt dabei eine zentrale Rolle. Mit 41 grenzüberschreitenden Leitungen ist sie mit am besten ins europäische Stromsystem integriert. Signifikante Stromflüsse durchqueren unser Land. Die Regeln für diese internationalen Flüsse sowie Handel werden in EU-Gremien definiert. Auch das EU-Nichtmitglied Schweiz ist in einigen dieser Gremien vertreten. Obwohl formell nur als Gast, kann sie dort doch ihre Interessen vertreten und auf Gestaltung und Regeln des europäischen Strommarktes Einfluss nehmen. Ob das so bleiben wird, ist jedoch unklar.

Infobox: Ungeplante Stromflüsse
Ungeplante Stromflüsse durch das Schweizer Stromnetz entstehen z.B. dann, wenn zwei Nachbarstaaten einen Stromhandel vollziehen und dieser durch die Schweiz als Transitland unangemeldet stattfindet. Dies kann zu lokalen Überbelastungen des Schweizer Stromnetzes führen. Das Phänomen der ungeplanten Stromflüsse tritt vor allem in der Schweiz auf, da sie in Berechnungen zum Stromhandel zwischen EU-Ländern aufgrund ihres Status (weder EU-Mitglied noch Stromabkommen mit der EU) derzeit nicht berücksichtigt wird, der Strom sich aber den Weg des geringsten Widerstand sucht (und dieser führt bei Flüssen zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich oftmals direkt durch die Schweiz).

Infobox: Loop Flows
Elektrischer Strom nimmt den Weg des geringsten Widerstands. Wenn Strom an einem Ort erzeugt wird, um einen Verbraucher an einem anderen Ort zu versorgen, sollte er hauptsächlich über die direktesten Stromleitungen zwischen den beiden Orten fliessen. Ist der Weg jedoch „verstopft“ (z.B. wegen unzureichender Netzinfrastruktur), nimmt er einen Umweg durch andere Teile des Netzes – und umgeht so die Blockade. Dies kann dazu führen, dass der Strom an unerwarteten Stellen landet und sogar durch die Netze von Nachbarländern fliesst. Loop Flows sind somit pirmär ein technisches und/oder infrastrukturelles Problem (zu wenige Leitungen/Netzinfrastruktur), wohingegen unangemeldete Stromflüsse primär ein regulatorisches oder politisches Problem darstellen (zu wenig oder kein Informationsaustausch über Stromflüsse).

Die Beziehungen mit der EU in der Stromfrage sind gekoppelt an das ausstehende Rahmenabkommen. Solange sich beide Seiten nicht einigen können, ist auch die künftige Rolle der Schweiz im europäischen Verbund nicht geklärt. Welche Konsequenzen das mit sich bringt, haben Philipp Thaler und Kollegen von der Universität St. Gallen kürzlich anlässlich einer ergänzenden Studie zum Nationalen Forschungsprogramm 70 (Energiewende) beleuchtet.

Das Stromnetz stösst an seine Grenzen

„Anders als beispielsweise Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) wie Norwegen setzt die Schweiz die EU-Regeln für den Stromsektor nicht automatisch um. Dadurch resultieren regulatorische Unterschiede zwischen beiden, die immer mehr zu einem Problem geworden sind“, sagt Thaler. „Nach heutigem Stand funktionieren die Beziehungen der Schweiz und der EU auf dem Energiemarkt nach Absprachen im beidseitigen Einvernehmen. Einen festen Rahmen dafür mit genauen Abläufen und Zuständigkeiten gibt es aber nicht.“

„Immer mehr unangemeldete Stromflüsse durchfliessen die Schweiz, beispielsweise, wenn Deutschland Elektrizität mit Italien handelt.“

Die Folgen sind dramatisch. Immer mehr unangemeldete Stromflüsse durchfliessen die Schweiz, beispielsweise, wenn Deutschland Elektrizität mit Italien handelt. Dabei kommt der Schweizer Übertragungsnetzbetreiber Swissgrid bei seiner Kernaufgabe, die Netzstabilität zu gewährleisten, immer öfter an seine Grenzen. Werden diese Grenzen überschritten, drohen sogenannte «Blackouts». In einem ähnlich gelagerten Fall wäre es vor knapp einem Jahr in der Schweiz beinahe zu einem solchen Netzausfall im ganzen Land gekommen. Der Grund dafür war eine Kettenreaktion im Austausch mit Deutschland: An jenem 20. Mai floss ein beträchtlicher Teil der Schweizer Stromproduktion in das Nachbarland, da dort eine akute Knappheit an Elektrizität herrschte. Nachdem die Schweiz ausgeholfen hatte, drohte ihr selbst das Licht auszugehen.

Infobox: Energiestrategie 2050 und Stromversorgungssicherheit
Am 21. Mai 2017 haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das revidierte Energiegesetz angenommen. Es dient dazu, den Energieverbrauch zu senken, die Energieeffizienz zu erhöhen und die erneuerbaren Energien zu fördern. Zudem wird der Bau neuer Kernkraftwerke verboten. Die Schweiz kann so die Abhängigkeit von importierten fossilen Energien reduzieren und die einheimischen erneuerbaren Energien stärken. Das schafft Arbeitsplätze und Investitionen in der Schweiz. (Quelle: UVEK)
Link Energiestrategie 2050
Bezüglich der schweizeigenen Stromversorgungssicherheit geht der Bundesrat davon aus, dass unabhängig vom Abschluss eines Stromabkommens mit der EU die eigene Schweizer Stromversorgung im Notfall bis ins Jahr 2030 gewährleistet sein sollte.
Link NR Interpellation Stromversogrungssicherheit

Swissgrid forderte damals, die Schweiz wieder stärker in die Berechnungen der Nachbarländer zu grenzüberschreitenden Stromflüssen einzubeziehen. In der Folge hat sich die Ausgangslage aber nicht entspannt. „Situationen, in denen die Netzstabilität bedroht ist, werden sich nicht nur wiederholen, sondern vor allem auch verschärfen“, sagt Thaler. Der EU-Strommarkt wachse immer mehr zusammen und auch der Stromhandel zwischen seinen Mitgliedern nehme zu. Die Schweiz dagegen stehe zunehmend abseits und werde auch mehr und mehr vom Handel mit der EU ausgeschlossen.

Stromimporte und Stromexporte Schweiz, Swissgrid

Zusammenarbeit erleichtert den Atomausstieg

Das erwähnte Stromabkommen könnte die Probleme lösen, doch rechnen darf man damit mit Blick auf die bisherigen Verhandlungen nicht. Seit 2007 versuchen die Schweiz und die EU vergeblich, sich in der Frage einig zu werden. „Heute scheitert der Abschluss des Stromabkommens vor allem daran, dass die EU es abhängig macht vom Rahmenabkommen“, so Thaler. „Dieses ist bei den Schweizer Wählern aber sehr umstritten. Deshalb ist es blockiert und der Abschluss eines Elektrizitätsabkommens unwahrscheinlich.“

Infobox: Die Schweiz im EU-Stromnetz
Die Stromnetze der Schweiz und der EU-Länder sind eng miteinander verknüpft. Mit 41 grenzüberschreitenden Leitungen zu ihren Nachbarn zählt die Schweiz zu den am stärksten vernetzten Gegenden des europäischen Stromverbundes. Im Jahr 2018 importierte sie 30,4 TWh Strom aus Österreich, Frankreich, Deutschland und Italien und exportierte 31,8 TWh in diese Länder. Im gleichen Zeitraum betrug die Schweizer Stromproduktion insgesamt 63,6 TWh. Der relativ hohe Anteil der grenzüberschreitenden Stromflüsse sichert nicht nur die Stromversorgung der Schweiz, sondern unterstreicht auch ihre Bedeutung als Transitland für Elektrizitätsflüsse. Folglich hängen auch die Sicherheit der Elektrizitätsversorgung in der EU und das Funktionieren des Elektrizitätsbinnenmarktes in erheblichem Masse von der Transitrolle der Schweiz ab (Quelle: Swissgrid).
Ein Beitrag des SRF zeigt jedoch auch die Problematik, in welcher sich das Europäische Stromnetz befindet:
Link „Unsicheres Europäisches Stromnetz – SRF Schweiz“

Eine Zusammenarbeit, die auf gemeinsamen Regeln beruht, in festen Gremien stattfindet und regen Stromhandel ermöglicht, wäre dringend nötig. Sie würde vor allem auch den Ausstieg aus der Atomenergie erleichtern, indem die Schweiz besser planen kann, wie sie die fehlende Energie aus den AKW im Austausch mit ihren Nachbarn ersetzt. Ausserdem könnte die Schweiz Strom der hierzulande unbeliebten Windkraftanlagen importieren und sich zum Beispiel auf den heimischen Ausbau der Solarenergie konzentrieren.

„Das Stromabkommen würde Rechtssicherheit schaffen bei den Handelsbedingungen mit der EU. Das würde den grenzüberschreitenden Handel erleichtern, und dabei helfen, die Ziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen, was wiederum den beteiligten Unternehmen zugutekäme“, sagt Thaler. Nicht zuletzt würde die Schweiz wieder mitreden, wenn es um die Gestaltung des europäischen Energienetzes geht. Geht die Schweiz auf der anderen Seite ohne Stromabkommen mit der EU in die Zukunft, kann das zu höheren Kosten bei der hiesigen Energiewende führen.

Infobox: Politisch umstritten
Das Stromabkommen oder Rahmenabkommen mit der EU gilt auch als Voraussetzung für die geplante Öffnung des Strommarktes. Diese Liberalisierung des Schweizer Strommarktes ist jedoch politisch nicht unumstritten. Allen voran die FDP sowie Economiesuisse sind starke Befürworter. Etwas kritischer sehen dies z.B. die SP oder die Schweizer Energiestiftung SES. Für weiterführende Informationen für unsere LeserInnen seien hier noch zwei Links angegeben:
Link UVEK „Öffnung CH-Strommarkt“
Link Energiestiftung „Strommarktliberalisierung“

Lac des Dix, Staumauer Grande-Dixence, Xavier von Erlach auf Unsplash

Hoffnungsschimmer «Green Deal»

Aussicht auf ein Stromabkommen ohne Rahmenabkommen besteht laut Thaler eher nicht. „Der Umgang mit dem Vereinigten Königreich im Zuge der Brexit-Verhandlungen hat gezeigt, dass die EU eine harte Linie mit Drittstaaten fährt und „Rosinenpickerei“ bei Abkommen auf jeden Fall vermeiden will.“ Mit der neuen Besetzung der EU-Kommission sieht er dennoch einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass eine Einigung auch in anderer Form gelingt: Unter dem Vorsitz von Ursula von der Leyen hat die EU jüngst einen «Green Deal» beschlossen, bei dem die Koppelung der Energiesysteme eine wichtige Rolle spielt.

Die Schweiz ihrerseits verfügt mit der Wasserkraft und den Stauseen über viel Potenzial, um Energie zu speichern. Auf der anderen Seite herrscht zum Beispiel in Deutschland ein Speicherbedarf, weil vor allem Solarenergie im Sommer anfällt, aber erst im Winter gebraucht würde. „Wenn sich Länder so ergänzen, könnte das die Energiewende also für alle Beteiligten erleichtern“, sagt Thaler. Synergieeffekte beim Erreichen des gemeinsamen Zieles, den CO2-Ausstoss zu senken, könnten also ein neues Argument liefern, gemeinsam nach Alternativen zum Stromabkommen zu suchen.

Infobox: NFP „Energie“
Die Nationalen Forschungsprogramme «Energie» umfassen 107 Forschungsprojekte: 15 Verbundprojekte mit insgesamt 62 Subprojekten und 7 Einzelprojekte für das NFP 70, 19 Einzelprojekte für das NFP 71 sowie vier Ergänzungsstudien, die mit praxisrelevanten Ergebnissen thematische Lücken in den beiden NFP schliessen. Quelle und weitere Informationen:
Link NFP „Energie“

„Eigentlich wollen beide dasselbe“

Die Schaltanlage in Laufenburg markierte den Beginn der europäischen Zusammenarbeit, damit Strom je nach Bedarf und Verfügbarkeit in die Haushalte und Betriebe gelangen kann. Nun müssen die Schweiz und die EU eine Lösung finden, damit die Anlage nicht zum Mahnmal für gescheiterte Zusammenarbeit wird. „Das wäre absurd angesichts der Tatsache, dass eigentlich beide dasselbe wollen“, sagt Thaler.

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Autor

Yves Ballinari

Experte Uni St. Gallen

Philipp Thaler

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