Denken lernen
Month: März 2020
Kann man Denken – speziell eigenständiges und kritisches Denken – in der Schule, im Studium lernen? Kann man so was unterrichten? «Selbst-Denken zu unterrichten ist, anders als Inhaltsvermittlung, ein Widerspruch in sich», sagt Prof. Dr. Christof Arn von der Hochschule für Agile Bildung in Zürich. Erfahre hier, wie es dennoch möglich wird.
Stella Stejskal-Blum | 29.03.2020
Nervenzellen, Visualisierung von Colin Behrens auf Pixabay
Prof. Dr. Christof Arn erteilte Weiterbildungsstudierenden den Auftrag, den Gedankengang in einem Fachtext eines renommierten Spezialisten zu verstehen. Sie scheiterten. In der gemeinsamen Analyse stellte sich heraus, dass der Fachtext einen entscheidenden Denkfehler enthielt. Selbst Prof. Arn hatte diesen übersehen. An diesem Beispiel zeigt sich: Die Studierenden hatten kritisch gedacht, ohne es zu wollen. Letztlich lag der Denkfehler im Text offen zu Tage. Noch kritischer Lesen geht nicht. Also: Schon der Versuch, zu verstehen, trägt das Potenzial zum kritischen Denken in sich – wenn man es zulässt. Oft wird leider gesagt: «Bitte zuerst verstehen, dann kritisch denken!». Christof Arn hält das auch didaktisch für ungünstig. Denn eine solche Haltung macht das Denken der anderen gross und hält das eigene klein. Besser: Die Lernenden ermuntern, mit einer selbstbewusst-kritischen Haltung schon ans Verstehen herangehen.
Infobox:
Nervenzellen: Das menschliche Gehirn besteht aus abermilliarden von Nervenzellen. Für weitere Informationen klick hier.
Curriculumsentwicklung: Die Neuentwicklung oder die Weiterentwicklung von Studiengängen.
Meta-Curriculum: Meint den Vergleich mehrerer Studiengänge zwecks Definition von Vorgaben.
Denken Fördern hat Bumerang-Effekt
Aber Achtung: Wenn Lehrende Lernende zu kritischem Denken ermuntern, kann das auch ein Bumerang sein. Denn jetzt gehen die Lernenden mit einer genauso selbstbewusst-kritischen Haltung an eben diese Lehrenden heran – also beispielsweise an Prof. Dr. Christof Arn selbst. Will man dann sich selbst treu bleiben und weiter das kritische Denken der Lernenden fördern, heisst das: «Ich helfe ihnen, mich zu kritisieren! Noch dazu vor Publikum! Und zwar helfe ich ihnen fair, nicht nur rhetorisch, nicht nur «pädagogisch», sondern in echt.» Das ist ja fast schon paradox: Ich helfe anderen dabei, dass sie mich kritisieren. «Selbst-Denken zu lehren trägt Spannung in sich, die man erst auszuhalten lernen muss.»
„Denken heisst Kauen: Wer sich ernähren will, muss kauen – oder pürierte Nahrung zu sich nehmen.“
Ein guter Weg ist, wenn Lehrende den Lernenden genau zuhören. Genaues Zuhören der einen unterstützt selbständiges Denken der anderen. «Critical thinking is an aspect of the activity of thinking.» (Moon 2008, 33) Will heissen: Menschen denken, sobald sie denken, schon kritisch – sie merken es nur manchmal nicht. Man kann also kritisches Denken bewusst machen, anstatt es hervorbringen zu wollen. Allerdings: Wird man noch als lehrende Person wahrgenommen, wenn man vor allem zuhört? Wirkt man noch kompetent, wissend? Ist das noch rollenkonform? Schon wieder eine innere Spannung, fast ein Widerspruch.
Von der Theorie in die Praxis
Dozierende, die sich diesen tendenziellen Widersprüchlichkeiten stellen wollen, müssen fortlaufend an ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung arbeiten. Sie müssen Differenzen zu- und stehenlassen können. Wenn unterschiedliche, vielleicht sogar einander widersprechende Positionen, Theorien oder Thesen im Raum stehen und die Entscheidung zwischen ihnen konsequent offen gehalten wird, ist es unmöglich, dass die Lernenden bloss versuchen, ein Denkergebnis anderer zu übernehmen. Die Offenheit der Situation provoziert eigenes Denken der Lernenden. Ideal sind echte Differenzen im Co-Teaching, die von zwei Lehrenden gemeinsam in den Dienst des Lernens der Lernenden gestellt werden.
„Es braucht Mut, konturiert zu denken, also nicht einfach Denkergebnisse anderer zu übernehmen.“
Unterschiedliche Einschätzungen erhalten Raum und dürfen kompromisslos nebeneinander stehenbleiben. Das setzt voraus, dass die lehrende Person die entsprechende Ambiguität tatsächlich verkörpert, was von einer entsprechend entwickelten Persönlichkeit begünstigt wird. Denkt die Lehrperson selbst im Richtig-Falsch-Modus, geht sie von «Musterlösungen» als Referenzen aus, torpediert das die Förderung des Denkens der Studierenden. Sich selbst als Lehrperson anders, offener zu den Denkprozessen der Studierenden zu stellen, ist anspruchsvoll. Der Weg geht Richtung «Freude am Widerspruch» (Bianchi 2017, 69).
Denken heisst Kauen
Wer sich ernähren will, muss kauen – oder pürierte Nahrung, «Vorgekautes», zu sich nehmen. Leider wird im Bildungssystem viel solch Vorgekautes geliefert. Mehr eigenständiges Denken entsteht, wenn man nicht vereinfachte Texte vorlegt, sondern hilft, anspruchsvolle Texte zu lesen. Wenigstens hie und da.
Denken braucht Mut. Dinge nur nachsprechen geht auch ohne. Die Autorin und Forscherin Dana Delibovi (2015) zeigt, dass die kognitiven Fähigkeiten der Lernenden sich genau dann entfalten, wenn Charakterentwicklung geschieht, wenn eine Fehlerkultur aufgebaut und ermutigt wird.
Konkret umgesetzt an einem Beispiel: Prof. Arn untersucht ein Dokument, das Vorgaben macht für die Inhalte und Themen des Ethikunterrichts für angehende ÄrztInnen, PhysiotherapeutInnen, Fachfrauen/-männer Gesundheit und andere Gesundheitsberufe. In diesem Dokument werden plausibel ausgewählte Kerninhalte von optionalen Themen unterschieden.
Allerdings: Die Fähigkeit zum Denken selbst hingegen bleibt eher am Rande. Explizite Nennungen von kritisch «Denken» finden sich insgesamt zwei; keine der Tugenden wie Mut oder Beharrlichkeit oder Offenheit, welche die Eigenständigkeit im Denken stärken, kommen vor. Das ist ungünstig. Denn der Mut, Gegenpositionen zu vertreten und in gemeinsame Prozesse und Entscheidungen einzubringen, ist in Gesundheitsberufen besonders bedeutsam.
Er ist zudem in ausgeprägt hierarchisch strukturierten Organisationen anspruchsvoll. Dies sind zwei zusätzliche Gründe, im Ethikunterricht gerade in diesen Berufen das «Denken» gegenüber den «Denkergebnissen anderer» besonders zu fördern, und Denkfähigkeit gleich zu gewichten wie zugehörige Tugenden. Glücklicherweise ist nämlich die Auseinandersetzung mit Themen der Bioethik besonders geeignet, Eigenständigkeit im Denken zu fördern.
Das alles spricht also nicht gegen «Inhalte», wie sie zum Beispiel in diesem Meta-Curriculum primär als Wissensbestände benannt werden. Vielmehr können auch diese so thematisiert werden, dass dabei die Denkfähigkeit gefördert wird. Nur: Genau das dürfte in diesem Dokument stehen.
Was ist Denken-Lernen wert?
Das gilt generell für Curriculumsentwicklung: Wie hoch Denkfähigkeit im Vergleich zu Wissensbeständen gewichtet werden soll, ist eine Wertefrage. Es geht hier also auch um eine «Ethik der Bildung»: Ein expliziter und reflektierter Umgang mit den Werten, welche die Didaktik, den Unterricht prägen sollen. In der Pädagogik werden die ihr jeweils inhärenten Wertepräferenzen in der Regel, wenn überhaupt, unter dem Label «Menschenbild» behandelt. Die Pädagogik könnte von der Methodik dezidiert ethischer, also methodisch systematischer Wertereflexion, daher sehr profitieren.
„Substanzielle Selbstreflexion bezieht sich auch auf die eigene Identität und Person, nicht nur auf das eigene Handeln.“
Selbstreflexion von Lehrenden und ihre eigene Entwicklungsoffenheit sind zentral. So kann ihr eigener Umgang mit Wertefragen, Paradoxien und Kritik – somit Förderung von Denken – gelingen. Das alles geht tief: Substanzielle Selbstreflexion bezieht sich auch auf die eigene Identität und Person, nicht nur auf den eigenen Unterricht und das eigene Handeln. Es ist ein Lernprozess, mit eigenen Fehlern entspannt umgehen zu können und damit, kritisiert oder sogar angegriffen zu werden. Kritikoffenheit kann besonders viel dazu beitragen, dass Lernende Denken wagen.
Sich als lehrende Person auf diesen offenen Weg der Persönlichkeitsentwicklung hin zu mehr und tieferer Selbstreflexion und damit übrigens auch einem entspannteren Umgang mit Paradoxien zu begeben, ist vermutlich der wirksamste Hebel zur Beförderung der Denk-Lehrfähigkeit.
Kritisch hinterfragen und aushalten
Denken lehren heisst, gewissermassen etwas Unmögliches zu tun. Es funktioniert, wenn man diese Widersprüchlichkeit aushalten kann. Es funktioniert nicht, wenn man meint, man müsse es nur richtigmachen, und dann würden die Schüler oder Studierenden schon lernen, selbst zu denken. Wer herausgefunden zu haben meint, wie es geht, kann es schon nicht mehr. Wer hingegen fortlaufend Denken aushalten kann, wenn es geschieht und wer bereit ist, fortlaufend das eigene Handeln neu darauf auszurichten – und Situationen, in denen das nicht gelingen will, als Entwicklungsaufgabe für die eigene Persönlichkeit zu sehen – ist gut unterwegs.
Ein einfacher Einstieg in diese Richtung kann folgender Ansatz sein: Im Grunde geht es darum, die Studierenden und sich selbst ernst zu nehmen. Das ist wichtiger als das klassische «Recht haben». Der Mut, konturiert zu denken, also nicht einfach Denkergebnisse anderer zu übernehmen, ist in echtem und fortlaufendem Ernstnehmen enthalten.
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Autorin

Stella Stejskal-Blum
Experte HfaB

Christof Arn
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Bakterien auf Standby – Zystitis ahoi!
Month: März 2020
Antibiotikaresistente Bakterien bekamen in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit. Zu Recht – sie zählen zu den grössten Herausforderungen, mit denen wir in Zukunft vermehrt, aber auch schon heute zu kämpfen haben. Resistente Bakterien sind allerdings nicht die alleinigen Übeltäter, wenn es um schwer zu beseitigende Infektionen, wie zum Beispiel einer Blasenentzündung geht. Im Gespräch mit einer Expertin des Universitätsspitals Zürich.
Kim Bodmer | 01.03.2020
Bakterien Symbolbild Foto von CDC auf Unsplash
Leonie* ist Mitte Dreissig, hat eine Blasenentzündung und sitzt im Wartesaal des Universitätsspitals Zürich. Zum dritten Mal in diesem Jahr. Erstmals bemerkbar hat sich das Brennen beim Urinieren vor acht Monaten gemacht. Die Ärzte verschrieben ihr Antibiotika, und nach zwei Wochen war alles wieder gut. Doch nur für eine kurze Zeit, denn bald brannte es erneut, sie unterzog sich abermals einer Behandlung und auch diese schien erfolgreich. Doch jetzt sitzt sie wieder hier und blättert leicht nervös in einem wahllos aufgegriffenen Magazin.
Leonie ist kein Einzelfall. Infektionen, die trotz erfolgreicher Behandlung mit Antibiotika kurz darauf wieder aufflammen, sind für die Ärzte des Universitätsspitals Zürich nichts Neues. Annelies Zinkernagel, Leitende Ärztin an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene erklärt: «Viele Bakterien mit gewissen Eigenschaften können solche hartnäckigen, immer wieder aufflammenden Infektionen verursachen – und ich spreche nicht von antibiotikaresistenten Bakterien. Gegen diese würde eine Antibiotikatherapie nämlich von Beginn an keine Wirkung zeigen.
Infobox Begriffe
Bakterielles Wachstum:
Bakterien sind Einzelzellorganismen, jedes Bakterium besteht aus einer einzigen Zelle. Indem sie sich teilen, vermehren sie sich und geben ihre Gene weiter. Aus einer Zelle werden dabei zwei.
Infektion:
Von einer Infektion spricht man, wenn ein Organismus von Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Pilze) besiedelt wird, sich diese vermehren und dadurch Krankheitssymptome auslösen.
Das Kultivieren:
Im biologischen Kontext bedeutet kultivieren das Erzeugen und Aufrechterhalten von Bedingungen, die das Wachstum eines bestimmten Organismus erlauben.
Die Bakterien, mit denen wir es in Leonies Fall zu tun haben, bilden dichte Schleimschichten, sogenannte Biofilme, bestehend aus Millionen von Bakterien. Eine kleine Subpopulation des Biofilms besteht aus Persister-Bakterien. Bei Gefahr treten die Persister in eine Art Schlafzustand, während welchem ihnen nichts passieren kann. Ist die Luft wieder rein, wachen sie auf und beginnen sich zu vermehren. »
Persistenz und Resistenz – der Unterschied
Resistente Bakterien haben einen Weg gefunden, Antibiotika für sich unschädlich zu machen. Beispielsweise indem sie den Wirkstoff inaktivieren oder einfach wieder aus sich herauspumpen. In der Gegenwart von Antibiotika wachsen resistente Bakterien unbeirrt weiter. Diese Fähigkeit geht auf eine Veränderung in ihrer Genetik zurück, also dem Erwerb von Resistenzgenen. Teilt sich ein resistentes Bakterium, kann es das Resistenzgen an seine Nachkommen weitergeben, sodass nach kurzer Zeit die gesamte Population resistent gegen ein bestimmtes Antibiotikum ist.
„Bei Gefahr treten die Persister in eine Art Schlafzustand, während welchem ihnen nichts passieren kann.“
Annelies Zinkernagel, Leitende Ärztin Universitätsspital Zürich
Persister funktionieren in vielerlei Hinsicht anders. Sie machen stets nur einen winzigen Bruchteil einer ganzen Population aus. Ausserdem sind die Nachkommen der Persister bis auf einige wenige Zellen grösstenteils Nicht-Persister. Der primäre Auslöser von Persistenz ist Stress – Nährstoffmangel, Dichtestress, ein zu saures Milieu, die verteidigenden Zellen unseres Immunsystems oder eben auch die Gegenwart von Antibiotika.
Alles, was ihre Existenz bedroht, führt in einem kleinen Bruchteil der Bakterienpopulation, den Persistern, zum Stillstand. Anders als die resistenten Bakterien, wachsen Persister in der Gegenwart von Antibiotika nicht oder nur sehr langsam. Vergleichbar mit einem Winterschlaf, ist alles, was sie dann noch tun, nicht zu sterben.
Im Innern eines Persisters
Sich ohne Resistenzgene von einem Antibiotikum nicht töten zu lassen – wie funktioniert das? Dazu muss man wissen, wie Antibiotika Bakterien Schaden zufügen. Antibiotika zielen darauf ab, überlebenswichtige Zellvorgänge in Bakterien lahmzulegen. Ciprofloxacin zum Beispiel, womit die Ärzte Leonies Blasenentzündung behandelten, verhindert die Produktion von DNA, wodurch die Bakterien absterben und verschwinden. Übrig bleiben die Persister, deren Strategie darin besteht, sämtliche Zellvorgänge inklusive Wachstum herunterzufahren. So machen sie sich unangreifbar für Antibiotika, richten aber gleichzeitig auch keinen Schaden in Leonies Blase an.
Für Leonie und die Ärzte entsteht der Eindruck, die Infektion sei beseitigt, sie beenden die Behandlung. Jetzt erwachen die Persister aus ihrem reglosen Zustand, nehmen ihr Wachstum wieder auf und kurz darauf sitzt Leonie erneut im Wartesaal.
Einzelne Zellen zu untersuchen ist schwierig
Beinahe achtzig Jahre ist es her, als das Phänomen der Persistenz zum ersten Mal beobachtet wurde. Dennoch wissen wir heute vergleichsweise wenig über die molekularen Mechanismen bakterieller Persistenz. Das liegt unter anderem daran, dass Persisterzellen sich nur schwer isolieren und kultivieren lassen – weil sie so wenige sind, sich kaum teilen und ihr Zustand reversibel ist.
Durch den technologischen Fortschritt der letzten fünfzehn Jahre sind Wissenschaftler heute besser im Stande, Persistenz zu erforschen. Und sie sind sich einig: Chronische Infektionen sind ein Problem, dessen Lösung nicht allein in der Entdeckung neuartiger Antibiotika liegt, sondern in der gleichzeitigen Entwicklung von Methoden, um Persister aus ihrem Schlafzustand wecken.
* fiktives Beispiel
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Autorin

Kim Bodmer
Expertin Unispital Zürich
