Dachse treten in die Fussstapfen der Stadtfüchse
Allgemein
Ein eher unerwarteter Bewohner der Siedlungsgebiete ist der Dachs. Der scheue Meister Grimbart lässt sich nur selten direkt beobachten; vielleicht auch, weil Dachse vor allem in der zweiten Nachthälfte unterwegs sind. Trotz ihrer heimlichen Lebensweise finden sich Dachse auch gut in menschlich geprägten Lebensräumen zurecht.
Madeleine Geiger und Anouk-Lisa Taucher | 31.03.2022
Stadtdachs, Foto von Peter Clayton
Wenn sich die Menschen in den Städten «Gute Nacht» sagen oder schon lange friedlich schlummern, dann kommen die nachtaktiven Stars aus ihren Verstecken: Igel, Fuchs und Dachs erobern Wohnungssiedlungen. Die Bevölkerung in der Schweiz wächst stetig und schweizweit leben rund 85 % aller Menschen in Städten – Tendenz steigend. Die menschliche Besiedelung verändert Gebiete, in denen sie gebaut wurden, grundlegend. Darum ist die Verstädterung ein wichtiges Thema im Naturschutz und betrifft nicht zuletzt auch die Dachse.
Schlaraffenland Siedlungsgebiet
Städte bieten spezielle Lebensbedingungen. Häufige menschliche Störungen in Städten führen dazu, dass sich vor allem anpassungsfähige Arten dort niederlassen. Diese finden in Städten zwar weniger natürliche Nahrung, andererseits ist die Stadt ein Schlaraffenland an Nahrungsquellen, die vom Menschen stammen. Ausserdem kann der Siedlungsraum gewissen Arten als Ersatzlebensraum dienen. Felsenbrütende Vögel, wie Alpensegler, finden an Gebäuden geeignete Nistplätze.
Igel profitieren von vielfältigen Strukturen wie Hecken, Büschen und offenen Wiesenflächen in Wohnquartieren. Städte weisen auch ein deutlich wärmeres Klima auf als ihre Umgebung. So können ursprünglich aus dem Mittelmeerraum stammende Arten, wie die Südliche Eichenschrecke, auch Städte nördlich der Alpen besiedeln. Aus diesen Gründen zeichnen sich Städte durch eine erstaunlich hohe Biodiversität aus. Allein in der Stadt Zürich kommen hunderte Tierarten vor.
Allesfresser auf Futtertour
Unsere einheimischen Dachse (Meles meles) gehören zur Gruppe der Raubtiere (Carnivora). Die Art ist in ganz Europa und Teilen Vorderasiens verbreitet. Die Tiere werden bis zu 17 kg schwer, sind eher plump und gedrungen gebaut und sind durch die kontrastreiche, schwarz-weiss gestreifte „Dachsmaske“ (fast) unverwechselbar.
Dachse sind wahre Allesfresser und verzehren gerne Obst, Beeren und Getreide, aber auch Würmer, Insekten und grössere Tiere, wie zum Beispiel Amphibien. Die Spuren einer nächtlichen Dachstour kann man bisweilen im eigenen Garten entdecken, wenn die Tiere auf der Suche nach Würmern und Engerlingen den Rasen umgegraben haben. Andere Spuren der Dachse, die man gelegentlich entdecken kann, sind die sogenannten „Latrinen“. Dies sind flache Mulden in der Erde, die als Toilette benutzt werden.
Grabkünstler und Clan-Liebhaber
Die langen Krallen und kräftigen Gliedmassen sind die passenden Werkzeuge, um unterirdische Baue zu graben. Diese werden vor allem in Laubwäldern und Gehölzen angelegt und ständig erweitert, zum Teil über Generationen hinweg. So erreichen die Höhlensysteme mit Wohnkammern und mehreren Ein- und Ausgängen manchmal immense Ausmasse und ein stattliches Alter von mehreren hundert Jahren. Die Baue werden meistens von ganzen Familienverbänden (Clans) von bis zu einem Dutzend Dachsen bewohnt.
INFOBOX: Der Europäische Dachs
Besonders auffallend ist die kontrastreiche, schwarz-weisse Gesichtszeichnung des Dachses. Wegen seines massigen Körpers, den kurzen Beinen und dem kleinen Kopf wirkt er eher behäbig, obschon er bei Gefahr in den Galopp wechseln kann und über kurze Distanzen bis zu 30 km/h erreicht!
Kopf-Rumpflänge: 64-88 cm
Schwanzlänge: 11-18 cm,
Höchstalter: bis 16 Jahre
Gewicht: bis 17 kg
Alter: max. 16 Jahre
Quelle: Wildtier Schweiz
Bisher haben Forschende angenommen, dass Dachse, die vereinzelt in Städten beobachtet werden können, zu sogenannten Reliktpopulationen gehören. Mit anderen Worten, dass diese Dachse Überlebende von Clans sind, deren Lebensräume durch die wachsenden Städte eingeschlossen wurden. Denn obwohl sogenannte Stadtdachse z.B. aus England und Norwegen schon länger bekannt sind, beschränken sich ihre Baue meistens auf die Stadtrandgebiete.
Allerdings haben Beobachterinnen und Beobachter seit einigen Jahren vermehrt Dachs-Sichtungen über die Citizen Science Plattform StadtWildTiere gemeldet, und dies in vielen verschiedenen Schweizer Städten. Sogar in den dicht bebauten Stadtzentren kam es immer wieder zu nächtlichen Begegnungen mit Grimbart. Diese Beobachtungen passen nicht ganz ins Bild des Dachses als vornehmliches «Landei».
Immer mehr Dachs-Sichtungen
Im Rahmen des Projektes StadtWildTiere haben Forschende in einer Studie untersucht, ob die Dachse wirklich gerade im Begriff sind die Städte zu erobern. Dazu haben sie verschiedene Datengrundlagen hinzugezogen.
Zum einen haben die WildtierbiologInnen «Fallwild»-Daten ausgewertet, um herauszufinden, ob die Dachspopulation in der Schweiz im Allgemeinen und in der Stadt Zürich im Speziellen über die letzten Jahre hinweg zugenommen hat. Die auf Strassen verendeten Wildtiere gelten als «Fallwild» und die Daten dazu fliessen in die Eidgenössische Jagdstatistik, bzw. in die Datenbank des Stadtzürcher Wildschonreviers.
Je häufiger eine Tierart in einem Gebiet ist, desto häufiger sind Individuen dieser Art in Verkehrsunfälle verwickelt. Diesen Daten nach hat die Anzahl Dachse unter den Verkehrsopfern in den Jahren 1992 – 2015 (Schweiz) und 1996 – 2017 (Stadt Zürich) signifikant zugenommen. Bis ins Jahr 2015 hat sich die Zahl der Dachse in der Schweiz sogar verdoppelt.
In die Falle getappt
Als zweite Grundlage wurden Daten von Fotofallen ausgewertet, die Bilder aufnehmen, sobald deren Infrarotsensoren eine Bewegung registrieren. Für diese Untersuchung haben die Forschenden Ergebnisse von verschiedenen Fotofallen-Studien aus Zürich und St. Gallen nach Nachweisen von Dachsen durchsucht. Die Frage hierbei war, ob es in jüngeren Jahren mehr Dachsnachweise gegeben hat als in früheren Jahren. Diese Zahlen zeigten klar, dass sich in der Stadt Zürich zwischen den Jahren 1997 und 2014 und in der Stadt St. Gallen zwischen den Jahren 2008 und 2016 die relative Anzahl Fotofallenstandorte, an denen Dachse nachgewiesen werden konnten, mehr als verdreifacht haben.
Als dritte Datengrundlage haben die Wildtierbiologinnen und -biologen zufällige Dachsbeobachtungen in der Stadt Zürich zwischen 1986 und 1995 und zwischen 2008 und 2017 miteinander verglichen. Die Beobachtungen stammten von Wildhütern und von der Bevölkerung der Stadt Zürich (Online-Meldeplattform StadtWildTiere). Die Frage hierbei war, wo die Beobachtenden im Stadtgebiet Dachse gesichtet hatten und ob sich die Verteilung im Laufe der Zeit verändert hat. Diese Vergleiche zeigten, dass Dachs-Beobachtungen in den 1980er und 1990er Jahren vor allem auf Stadtrandgebiete in Waldnähe beschränkt waren. In späteren Jahren waren Dachse im Gegensatz dazu über das gesamte Stadtgebiet verteilt und wurden sogar im Stadtzentrum beobachtet.
Unterschiedliche Daten, aber das gleiche Bild
Die Forschenden haben diese Daten mit sehr unterschiedlichen Methoden erhoben und dennoch ergeben sie alle dasselbe Bild: Dachse werden in der Schweiz häufiger, insbesondere in den Städten. Die bereits bekannten Dachsvorkommen in den Städten Europas sind also wahrscheinlich nicht nur überlebende Relikte einer vergangenen, weniger städtisch geprägten Zeit, sondern prosperierende und wachsende Populationen, ähnlich den mittlerweile so gut bekannten Stadtfuchspopulationen.
„Die Spuren einer nächtlichen Dachstour kann man bisweilen im eigenen Garten entdecken, wenn die Tiere auf der Suche nach Würmern und Engerlingen den Rasen umgegraben haben.“
Objektiv betrachtet ist eine solche Entwicklung wenig verwunderlich. Ähnlich wie Füchse sind Dachse anpassungsfähige Allesfresser und flexibel bezüglich Streifgebiet und Gruppenorganisation. Diese Eigenschaften sind vorteilhafte (Vor-)Anpassungen an ein Leben im sich schnell verändernden städtischen Lebensraum. Die Entwicklung einer gewissen Zahmheit, also das Fehlen grosser Scheu gegenüber dem Menschen, ist dann alles, was der Dachs noch braucht, um sich diesen neuen, ständig wachsenden Lebensraum zunutze zu machen.
Füchse waren schneller
Angesichts dieser Eignung des Dachses für ein Leben im städtischen Lebensraum stellt sich allerdings auch die Frage, wieso Füchse im Vergleich zu Dachsen so viel früher urbane Lebensräume besetzten und ihre Populationen so viel schneller wuchsen. Die Gründe dafür dürften vielschichtig sein: Zum einen pflanzen sich junge Dachse, verglichen mit Füchsen, später im Leben zum ersten Mal fort und gebären pro Wurf weniger Junge. Dies trägt möglicherweise zum kleineren Wachstumspotential der Dachspopulationen bei. Zum anderen sind Dachse stärker an ihre Baue gebunden als Füchse, was die Flexibilität der Dachse einschränken kann.
Es wäre spannend das neue Phänomen Stadtdachse noch weiter zu erforschen. Es stellen sich zum Beispiel folgende Fragen: Bestehen die städtischen Dachspopulationen vor allem aus Tieren aus den umliegenden ländlichen Gebieten, die immer wieder in die städtischen Gebiete einwandern? Oder sind die städtischen Dachspopulationen sich selbsterhaltende und von den umliegenden ländlichen Populationen relativ gut isolierte Einheiten, ähnlich wie die städtischen Fuchspopulationen?
Charisma versus Grabschäden
Ebenfalls ungeklärt ist, wie sich das vermehrte Dachsvorkommen auf den Menschen und andere Tiere der Städte auswirkt. Zum einen ist der Dachs eine charismatische Tierart, die mithelfen kann, das allgemeine Interesse der Stadtbevölkerung an der Natur zu wecken und zu stärken. Denn der Kontakt mit der Natur ist nicht nur wichtig für die menschliche Gesundheit, die Erholung und das Wohlbefinden, sondern fördert auch positive Gefühle, konstruktives Verhalten und eine zusagende Einstellung gegenüber der Natur.
Zum anderen haben Dachse einen Einfluss auf das urbane Ökosystem. Beispielsweise dienen die Baue der Dachse auch anderen Tieren, wie z.B. Füchsen als Lebensraum. Ein erhöhtes Dachsvorkommen in städtischen Gebieten kann für andere Bewohner auch Herausforderungen mit sich bringen. Erwähnt seien hier etwa das erhöhte Potential für Grabschäden in Gärten sowie als Futterkonkurrent anderer städtischer Wildtiere.
Sollten Sie zukünftig jedoch zu den glücklichen Stadtbewohnerinnen oder Stadtbewohnern gehören, welche nachts die Silhouette eines Dachs erblicken, so wissen Sie spätestens jetzt Bescheid, dass Ihnen dies durchaus auch in städtischem Gebiet geschehen kann. Zumindest an der Grösse des Dachses sollte es grundsätzlich nicht scheitern, wiegt dieser doch bis zu dreimal so viel wie ein ausgewachsener Fuchs.
Dieser Artikel wurde basierend auf dem „Fauna Focus“ Nr. 58 Bericht von Wildtier Schweiz in verkürzter Form für WIBLO geschrieben:
Heftreihe Fauna Focus
Autorin & Expertin

Madeleine Geiger
Autorin & Expertin

Anouk-Lisa Taucher
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Die Restauratorin, die der Vergangenheit Leben einhaucht
Allgemein
Das Wichtigste gleich vorweg: In diesem Text geht es nicht um Restaurationsfachfrauen und Gastronomiemänner, die hungrigen Personen energieliefernde Gerichte servieren, sondern um Expertinnen und Spezialisten der Restaurierung, welche den Erhalt von alten Objekten sicherstellen. Meret Bächler gewährt Einblick in den Alltag einer Konservatorin und Restauratorin von altem und wertvollem Schriftgut.
Selin Scherrer und Michael Gehrig | 11.10.2021
Meret Bächler bei der Pergament-Reinigung, Foto Michael Baumberger
Wart ihr auch schon in einem Museum und habt euch gefragt, wie die oftmals mehrere Jahrhunderte alten, ausgestellten Objekte in solch gutem Zustand erhalten werden konnten? Natürlich werden diese Fundstücke selten im besten Zustand entdeckt, darum steckt eine Heidenarbeit dahinter, bis die Zeitzeugnisse bereit sind zur Präsentation. Meret Bächler und ihre BerufskollegInnen kümmern sich um zerbrochene, zerrissene, zerknitterte oder verschimmelte Bücher und Urkunden, um deren Leserlichkeit und Verständnis wiederherzustellen.
Pergamenturkunde aus dem Jahr 1481. Links: Urkunde mit Verformungen und beschädigtem Wachssiegel bei Ankunft im Atelier. Rechts: Urkunde nach der Restaurierung durch Meret Bächler.
Vollständige Überlieferung von Informationen aus der Vergangenheit
AuftragsgeberInnen sind vorwiegend Archive, Bibliotheken oder Museen. Selten gibt es auch Aufträge von Privatpersonen, die eine Bibel aus langjährigem Familienbesitz restaurieren wollen. Bei der Wiederherstellung von Objekten handelt es sich um eine Restaurierung und somit um einen direkten Eingriff am Objekt. Andere Objekte werden konserviert, damit deren Zustand erhalten werden kann und später kein direkter Eingriff nötig wird. Dazu gehören Arbeiten wie das Reinigen von Schriftgut, das Entwickeln von geeigneten Aufbewahrungssystemen und dem Schaffen von einem stabilen klimatischen Umfeld für die Lagerung oder Präsentation der Objekte.
Klebstoff auflösen mit Wasserdampf durch Meret Bächler, Foto Michael Baumberger – chicshot.ch
Insbesondere das klimatisch stabile Umfeld ist sehr wichtig für die Lagerung der hygroskopischen Schriften. Hygroskopisches Material nimmt Feuchtigkeit aus der Luft auf und gibt diese wieder ab, sobald die Umgebung trockener wird. Werden Schriften in einem klimatisch instabilen Umfeld gelagert, dehnen sie sich abwechselnd aus und ziehen sich wieder zusammen, was dem Material auf Dauer schadet.
INFOBOX: Bücher aus Pergament
Auch Bücher wurden im Mittelalter aus Pergamentseiten hergestellt. Für die Herstellung eines einzigen grossformatigen Werkes wurden oft Häute von mehreren hundert Schafen, Ziegen oder Kälbern benötig.
Penibel genaues und stabiles Klima
Das empfohlene Lagerungsklima für Archivgut liegt bei 15-20 °C und 45-55 % Luftfeuchtigkeit, bedeutsam für die ideale Lagerung ist jedoch vor allem die Klimastabilität. Schnell wird klar, dass die Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten abwechslungsreich und das dafür geforderte Wissen und Knowhow breit sind. Diese Vielfältigkeit ist es, die die Expertin an ihrer Arbeit schätzt. Oft ist zwar Geduld für lang andauernde und häufig wiederkehrende Aufgaben gefragt, aber die vielen verschiedenen Materialien, mit denen sie arbeitet, die gefragte Kreativität für die Lösung von neuen Problemen und die Mischung von unterschiedlichsten Aufträgen machen ihren Alltag als Restauratorin interessant und vielfältig. Dazu gehören neben Restaurierungs- und Konservierungsarbeiten zum Beispiel auch die Unterstützung von Museen bei deren Ausstellungskonzepten.
Restaurierung eines Wachssiegels durch Meret Bächler, Foto Michael Baumberger – chicshot.ch
Von Geschichte über Ethik bis Chemie
Nach drei Jahren Bachelorstudium war die heutige Inhaberin des Ateliers Schriftgut-Restaurierung befähigt, als Konservatorin zu arbeiten und präventive Arbeiten auszuüben. Erst nach den zusätzlichen zwei Jahren Masterstudium besass sie sämtliche Fähigkeiten, um als Restaurierungsfachfrau zu arbeiten und durfte daraufhin auch Eingriffe an Objekten durchführen. Vorlesungen zu den Themen Materialwissenschaften und Chemie sowie handwerkliche Praktika und Ethikseminare standen im Zentrum der Ausbildung an der Berner Fachhochschule. Die ethischen Grundsätze stellen die Geschichte des Objekts ins Zentrum und prägen den Alltag von perfektionistischen Restauratorinnen und Restauratoren.
INFOBOX: „Das geht auf keine Kuhhaut!“
Im Mittelalter glaubten die Menschen, dass der Teufel eine Liste mit den Sünden jedes einzelnen Menschen auf Pergament, also Tierhaut, notiert. Die Pergamenthäute von Ziegen und Schafen sind eher klein, jene von Kühen eher gross. Folglich muss es sich um einen sehr sündhaften Menschen handeln, wenn die Liste kaum noch auf einer Kuhhaut Platz hat…
Eingriff muss sichtbar sein
Bei Restaurierungen geht es nämlich nicht darum, den perfekt passenden Farbton für den fehlenden Teil einer Urkunde zu mischen. Perfekt in diesem Fall ist ein Farbton, der einen Tick dunkler oder heller ist, damit bei genauem Hinschauen der Eingriff am Originalobjekt ersichtlich ist. Zudem ist es wichtig, dass die für die Restaurierung verwendeten Materialen alterungsbeständig und die durchgeführten Eingriffe wann immer möglich reversibel sind, das heisst ohne Schaden am Original wieder rückgängig gemacht werden können.
Was passiert mit einer Pergamenturkunde nach Eintreffen im Atelier?
Pergament ist Tierhaut, die im Gegensatz zu Leder nicht gegerbt, sondern zur Entfernung der Haare in Kalklauge behandelt, und danach im nassen Zustand gespannt und an der Luft getrocknet wurde. Pergament stellte in Europa zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert das primäre Beschreibmaterial dar, bevor es von Papier abgelöst wurde.
Links: Gefaltet aufbewahrte Pergamenturkunden. Rechts: Gerollt aufbewahrte Pergamenturkunden. Foto Meret Bächler
Bei Ankunft der Urkunden im Atelier wird als Erstes der Vorzustand beurteilt. Das Hauptproblem bei Pergamenturkunden ist oftmals, dass sie gefaltet oder gerollt aufbewahrt wurden und sich nur schwer öffnen lassen. Das Material hat sich an die Lagerungsform gewöhnt und rollt oder faltet sich nach dem Öffnen gleich wieder von selbst in die Lagerungsposition zurück.
Schadensbild 1: Links: Urkunde mit Frassspuren von einem Nagetier. Rechts: Dieselbe Urkunde nach dem Planlegen und der Restaurierung der Frassspuren mit neuem Pergament. Foto Meret Bächler
Weitere Schadensbilder bei Urkunden sind Verunreinigungen, Schimmel, Risse, durch Nagetiere verursachte Fehlstellen (Schadensbild 1), beschädigte Wachssiegel (Schadensbild 2) oder Bleibullen mit Bleicarbonat-Beschlag (Schadensbild 3).
Schadensbild 2: Links: Wachssiegel aus dem Jahr 1549 mit Verunreinigungen und einer Fehlstelle oben. Rechts: Das Siegel nach der Reinigung mit Tensid und ergänzt mit neuem Wachs. Bei genauem Hinsehen erkennt man im Nachzustand die unterschiedlichen Farbtöne von Originalsiegel und zugefügtem Material. Foto Meret Bächler
In ihrem Büro mit PC- Arbeitsplatz und Fotografie-Ecke hält die Restaurierungsfachfrau den Vorzustand der Objekte anhand von Fotos und Text genau fest. Für jeden Auftrag wird eine umfangreiche Dokumentation erstellt, worin nach der Beschreibung des Vorzustandes auch laufend die vorgenommenen Arbeitsschritte präzise dokumentiert werden.
Schadensbild 3: Diese Urkunde aus dem Jahr 1247 enthält anstelle eines Wachssiegels, das man am häufigsten antrifft, eine Bleibulle. Links: Vorzustand mit Bleicarbonat Bildung auf der Oberfläche der Bleibulle. Rechts: Die durch elektrolytische Behandlung von Bleicarbonat befreite Urkunde im Nachzustand. Foto Meret Bächler
Im Chemielabor – von Säuren und Basen
Auch ein Chemieraum gehört zum Atelier. Hier werden unterschiedliche Klebstoffe hergestellt und gelagert, verschiedene Farbstoffe gemixt oder Materialien eingefärbt. In diesem Raum geschieht auch ein grosser Teil der Untersuchung nach Ankunft der Urkunden. Mithilfe des Mikroskops kann anhand des Porenbildes der Haut die Tierart des Pergaments identifiziert werden. Die Position auf der Tierhaut wird auf dem Leuchttisch bestimmt, und mit einer UV-Lampe werden die Urkunden nach verblasster Tinte untersucht. Bei der Analyse von Papierobjekten kommt zudem ein Oberflächen-pH-Messgerät zur genauen Bestimmung des pH-Werts des Papiers zum Einsatz. Denn häufig müssen vergilbte Papiere mittels Wasserbehandlung entsäuert und mit einem alkalischen Puffer (Calciumcarbonat) versehen werden.
INFOBOX: „Ein Buch aufschlagen“
Früher wurden für Bücher Holzdeckel verwendet, die mit Metallhaken versehen wurden. Auf diese Weise konnte das Buch geschlossen werden. Um diese Haken zu öffnen, musste man das Buch zusammendrücken – oder eben das Buch auf den Tisch legen und auf den Buchdeckel schlagen, die Haken sprangen von selbst auf und man konnte das wortwörtlich aufgeschlagene Buch zu lesen beginnen.
Der Schmutzraum – unentbehrlich und meditativ
Ein weiterer kleiner Raum schliesst sich dem Chemieraum an. Die abtrennende Tür kann dicht geschlossen werden, damit sich der Staub und Schmutz nicht im ganzen Atelier ausbreitet – denn hier wird gereinigt. Die Schimmelsporen sowie den Staub des Holzschleifens möchte man lieber nicht überall verteilen. Hier reinigt die Schriftgut-Spezialistin die heiklen Pergamenturkunden mit einer weichen Bürste, während hartnäckigere Stellen mithilfe eines Latexschwammes oder Druckluft gesäubert werden.
Die Wachssiegel werden trocken mit Pinsel oder bei starker Verschmutzung mit Tensid gereinigt (Schadensbild 2). Bleibullen mit Bleicarbonat-Bildung erhalten eine elektrolytische Behandlung (Schadensbild 3). Der Blickfang dieses Raumes ist ein kleiner Staubsaugeraufsatz, der über einem Schreibtisch hängt. Damit kann Meret in einer ihrer dann eher meditativen Tätigkeiten Seite für Seite den Falz von dicken Büchern saugen, und sich zugleich über die unterschiedlichsten mehr oder weniger merkwürdigen oder spannenden Bücher-Inhalte wundern.
Den Jahrhunderte alten Patienten neues Leben einhauchen
Eine grosszügige Werkstatt bildet das Herzstück des Ateliers. Hier werden instabile Fehlstellen und Risse mit neuem Pergament oder mit eingefärbtem Japanpapier und Weizenstärkekleister restauriert (Schadensbild 1). Fehlstellen und Brüche im Wachssiegel werden mit selbst hergestellten Wachsmischungen gefestigt oder ergänzt (Schadensbild 2). Ein langwieriger Prozess ist das Planlegen von gefalteten und gerollten Urkunden. Für ein langfristiges Glätten müssen die Urkunden zuerst im Zedernholzkasten bei etwa 93 % relativer Luftfeuchtigkeit für ca. 48 Stunden befeuchtet werden, bis die Tierhaut weich und elastisch ist.
Verschiedene Wachsmischungen für die Siegelrestaurierung. Foto Michael Baumberger – chicshot.ch
Danach werden die Urkunden auf dem Unterdrucktisch für ungefähr eine Stunde plangelegt, bis man das Pergament trocken und glatt entnehmen kann. Schlussendlich kommen die Urkunden für 3 Monate in die Stockpresse, um eine nachhaltige Formstabilität zu erreichen. Über das Jahr füllen sich diese Pressen zu einem Berg von Urkunden, die mit den herausbaumelnden Siegeln aller Art einen sehr schönen Anblick bieten (siehe Titelbild). Am Ende des Restaurierungsprozesses werden gelegentlich einzelne Urkunden in ein Aufbewahrungsbehältnis montiert, worin sie gelagert oder ausgestellt werden können. Bevor die Urkunden das Atelier wieder verlassen, hält Meret auch den Nachzustandes der Objekte bildlich und textlich in der Dokumentation fest.
INFOBOX: Aktuelles Restaurierungsprojekt „Barbarossa“
Diese Urkunde stammt von Friedrich I., genannt Barbarossa, Kaiser des römisch-deutschen Reiches, der mit dieser Urkunde im Jahre 1153 das Kloster Payerne unter seinen Schutz nahm. Dieses Kloster ist bekannt für seine zahlreiche Fälschungen aus dem 12. Jahrhundert, da die Mönche für neue Rechte kämpften: Zum Beispiel wollten sie ihren eigenen Abt auch selbst wählen können. Die vorgestellte Urkunde ist allerdings echt und wird im Staatsarchiv Fribourg aufbewahrt.
Pergamenturkunde von Friedrich I. aus dem Staatsarchiv Fribourg (StAFR Payerne 4a). Links: Vorzustand des gebrochenen Wachssiegels, das in die Urkunde eingedrückt ist. Rechts: Nachzustand mit durchgedrücktem Wachssiegel nach der Restaurierung. Foto Meret Bächler
Die Pergamenturkunde von Friedrich I. wird aufgrund des durchgedrückten Siegels in einen Klettrahmen gespannt und an der Luft getrocknet.
Bei dieser Urkunde ist das Siegel nicht angehängt, sondern in das Pergament durchgedrückt. Um das Siegel nicht zu beschädigen, wurde die Urkunde nach dem Befeuchten nicht auf dem Unterdrucktisch plangelegt, sondern mit Klammern in einen Klettrahmen gespannt und an der Luft getrocknet, also ähnlich wie damals bei der Herstellung von Pergament. Danach wurde die Urkunde lokal beschwert, statt in der Stockpresse eingepresst. Dies weil das Siegel in diesem Beispiel nicht aus der Presse herauslugen konnte und zerdrückt worden wäre.
Für mehr Informationen verweisen wir gerne auf die Webseite
schriftgut-restaurierung.ch von Meret Bächler.
Meret Bächler bei der Pergament-Reinigung, Foto Michael Baumberger
Wart ihr auch schon in einem Museum und habt euch gefragt, wie die oftmals mehrere Jahrhunderte alten, ausgestellten Objekte in solch gutem Zustand erhalten werden konnten? Natürlich werden diese Fundstücke selten im besten Zustand entdeckt, darum steckt eine Heidenarbeit dahinter, bis die Zeitzeugnisse bereit sind zur Präsentation. Meret Bächler und ihre BerufskollegInnen kümmern sich um zerbrochene, zerrissene, zerknitterte oder verschimmelte Bücher und Urkunden, um deren Leserlichkeit und Verständnis wiederherzustellen.
Pergamenturkunde aus dem Jahr 1481. Links: Urkunde mit Verformungen und beschädigtem Wachssiegel bei Ankunft im Atelier. Rechts: Urkunde nach der Restaurierung durch Meret Bächler.
Vollständige Überlieferung von Informationen aus der Vergangenheit
AuftragsgeberInnen sind vorwiegend Archive, Bibliotheken oder Museen. Selten gibt es auch Aufträge von Privatpersonen, die eine Bibel aus langjährigem Familienbesitz restaurieren wollen. Bei der Wiederherstellung von Objekten handelt es sich um eine Restaurierung und somit um einen direkten Eingriff am Objekt. Andere Objekte werden konserviert, damit deren Zustand erhalten werden kann und später kein direkter Eingriff nötig wird. Dazu gehören Arbeiten wie das Reinigen von Schriftgut, das Entwickeln von geeigneten Aufbewahrungssystemen und dem Schaffen von einem stabilen klimatischen Umfeld für die Lagerung oder Präsentation der Objekte.
Klebstoff auflösen mit Wasserdampf durch Meret Bächler, Foto Michael Baumberger – chicshot.ch
Insbesondere das klimatisch stabile Umfeld ist sehr wichtig für die Lagerung der hygroskopischen Schriften. Hygroskopisches Material nimmt Feuchtigkeit aus der Luft auf und gibt diese wieder ab, sobald die Umgebung trockener wird. Werden Schriften in einem klimatisch instabilen Umfeld gelagert, dehnen sie sich abwechselnd aus und ziehen sich wieder zusammen, was dem Material auf Dauer schadet.
INFOBOX: Bücher aus Pergament
Auch Bücher wurden im Mittelalter aus Pergamentseiten hergestellt. Für die Herstellung eines einzigen grossformatigen Werkes wurden oft Häute von mehreren hundert Schafen, Ziegen oder Kälbern benötig.
Penibel genaues und stabiles Klima
Das empfohlene Lagerungsklima für Archivgut liegt bei 15-20 °C und 45-55 % Luftfeuchtigkeit, bedeutsam für die ideale Lagerung ist jedoch vor allem die Klimastabilität. Schnell wird klar, dass die Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten abwechslungsreich und das dafür geforderte Wissen und Knowhow breit sind. Diese Vielfältigkeit ist es, die die Expertin an ihrer Arbeit schätzt. Oft ist zwar Geduld für lang andauernde und häufig wiederkehrende Aufgaben gefragt, aber die vielen verschiedenen Materialien, mit denen sie arbeitet, die gefragte Kreativität für die Lösung von neuen Problemen und die Mischung von unterschiedlichsten Aufträgen machen ihren Alltag als Restauratorin interessant und vielfältig. Dazu gehören neben Restaurierungs- und Konservierungsarbeiten zum Beispiel auch die Unterstützung von Museen bei deren Ausstellungskonzepten.
Restaurierung eines Wachssiegels durch Meret Bächler, Foto Michael Baumberger – chicshot.ch
Von Geschichte über Ethik bis Chemie
Nach drei Jahren Bachelorstudium war die heutige Inhaberin des Ateliers Schriftgut-Restaurierung befähigt, als Konservatorin zu arbeiten und präventive Arbeiten auszuüben. Erst nach den zusätzlichen zwei Jahren Masterstudium besass sie sämtliche Fähigkeiten, um als Restaurierungsfachfrau zu arbeiten und durfte daraufhin auch Eingriffe an Objekten durchführen. Vorlesungen zu den Themen Materialwissenschaften und Chemie sowie handwerkliche Praktika und Ethikseminare standen im Zentrum der Ausbildung an der Berner Fachhochschule. Die ethischen Grundsätze stellen die Geschichte des Objekts ins Zentrum und prägen den Alltag von perfektionistischen Restauratorinnen und Restauratoren.
INFOBOX: „Das geht auf keine Kuhhaut!“
Im Mittelalter glaubten die Menschen, dass der Teufel eine Liste mit den Sünden jedes einzelnen Menschen auf Pergament, also Tierhaut, notiert. Die Pergamenthäute von Ziegen und Schafen sind eher klein, jene von Kühen eher gross. Folglich muss es sich um einen sehr sündhaften Menschen handeln, wenn die Liste kaum noch auf einer Kuhhaut Platz hat…
Eingriff muss sichtbar sein
Bei Restaurierungen geht es nämlich nicht darum, den perfekt passenden Farbton für den fehlenden Teil einer Urkunde zu mischen. Perfekt in diesem Fall ist ein Farbton, der einen Tick dunkler oder heller ist, damit bei genauem Hinschauen der Eingriff am Originalobjekt ersichtlich ist. Zudem ist es wichtig, dass die für die Restaurierung verwendeten Materialen alterungsbeständig und die durchgeführten Eingriffe wann immer möglich reversibel sind, das heisst ohne Schaden am Original wieder rückgängig gemacht werden können.
Was passiert mit einer Pergamenturkunde nach Eintreffen im Atelier?
Pergament ist Tierhaut, die im Gegensatz zu Leder nicht gegerbt, sondern zur Entfernung der Haare in Kalklauge behandelt, und danach im nassen Zustand gespannt und an der Luft getrocknet wurde. Pergament stellte in Europa zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert das primäre Beschreibmaterial dar, bevor es von Papier abgelöst wurde.
Links: Gefaltet aufbewahrte Pergamenturkunden. Rechts: Gerollt aufbewahrte Pergamenturkunden. Foto Meret Bächler
Bei Ankunft der Urkunden im Atelier wird als Erstes der Vorzustand beurteilt. Das Hauptproblem bei Pergamenturkunden ist oftmals, dass sie gefaltet oder gerollt aufbewahrt wurden und sich nur schwer öffnen lassen. Das Material hat sich an die Lagerungsform gewöhnt und rollt oder faltet sich nach dem Öffnen gleich wieder von selbst in die Lagerungsposition zurück.
Schadensbild 1: Links: Urkunde mit Frassspuren von einem Nagetier. Rechts: Dieselbe Urkunde nach dem Planlegen und der Restaurierung der Frassspuren mit neuem Pergament. Foto Meret Bächler
Weitere Schadensbilder bei Urkunden sind Verunreinigungen, Schimmel, Risse, durch Nagetiere verursachte Fehlstellen (Schadensbild 1), beschädigte Wachssiegel (Schadensbild 2) oder Bleibullen mit Bleicarbonat-Beschlag (Schadensbild 3).
Schadensbild 2: Links: Wachssiegel aus dem Jahr 1549 mit Verunreinigungen und einer Fehlstelle oben. Rechts: Das Siegel nach der Reinigung mit Tensid und ergänzt mit neuem Wachs. Bei genauem Hinsehen erkennt man im Nachzustand die unterschiedlichen Farbtöne von Originalsiegel und zugefügtem Material. Foto Meret Bächler
In ihrem Büro mit PC- Arbeitsplatz und Fotografie-Ecke hält die Restaurierungsfachfrau den Vorzustand der Objekte anhand von Fotos und Text genau fest. Für jeden Auftrag wird eine umfangreiche Dokumentation erstellt, worin nach der Beschreibung des Vorzustandes auch laufend die vorgenommenen Arbeitsschritte präzise dokumentiert werden.
Schadensbild 3: Diese Urkunde aus dem Jahr 1247 enthält anstelle eines Wachssiegels, das man am häufigsten antrifft, eine Bleibulle. Links: Vorzustand mit Bleicarbonat Bildung auf der Oberfläche der Bleibulle. Rechts: Die durch elektrolytische Behandlung von Bleicarbonat befreite Urkunde im Nachzustand. Foto Meret Bächler
Im Chemielabor – von Säuren und Basen
Auch ein Chemieraum gehört zum Atelier. Hier werden unterschiedliche Klebstoffe hergestellt und gelagert, verschiedene Farbstoffe gemixt oder Materialien eingefärbt. In diesem Raum geschieht auch ein grosser Teil der Untersuchung nach Ankunft der Urkunden. Mithilfe des Mikroskops kann anhand des Porenbildes der Haut die Tierart des Pergaments identifiziert werden. Die Position auf der Tierhaut wird auf dem Leuchttisch bestimmt, und mit einer UV-Lampe werden die Urkunden nach verblasster Tinte untersucht. Bei der Analyse von Papierobjekten kommt zudem ein Oberflächen-pH-Messgerät zur genauen Bestimmung des pH-Werts des Papiers zum Einsatz. Denn häufig müssen vergilbte Papiere mittels Wasserbehandlung entsäuert und mit einem alkalischen Puffer (Calciumcarbonat) versehen werden.
INFOBOX: „Ein Buch aufschlagen“
Früher wurden für Bücher Holzdeckel verwendet, die mit Metallhaken versehen wurden. Auf diese Weise konnte das Buch geschlossen werden. Um diese Haken zu öffnen, musste man das Buch zusammendrücken – oder eben das Buch auf den Tisch legen und auf den Buchdeckel schlagen, die Haken sprangen von selbst auf und man konnte das wortwörtlich aufgeschlagene Buch zu lesen beginnen.
Der Schmutzraum – unentbehrlich und meditativ
Ein weiterer kleiner Raum schliesst sich dem Chemieraum an. Die abtrennende Tür kann dicht geschlossen werden, damit sich der Staub und Schmutz nicht im ganzen Atelier ausbreitet – denn hier wird gereinigt. Die Schimmelsporen sowie den Staub des Holzschleifens möchte man lieber nicht überall verteilen. Hier reinigt die Schriftgut-Spezialistin die heiklen Pergamenturkunden mit einer weichen Bürste, während hartnäckigere Stellen mithilfe eines Latexschwammes oder Druckluft gesäubert werden.
Die Wachssiegel werden trocken mit Pinsel oder bei starker Verschmutzung mit Tensid gereinigt (Schadensbild 2). Bleibullen mit Bleicarbonat-Bildung erhalten eine elektrolytische Behandlung (Schadensbild 3). Der Blickfang dieses Raumes ist ein kleiner Staubsaugeraufsatz, der über einem Schreibtisch hängt. Damit kann Meret in einer ihrer dann eher meditativen Tätigkeiten Seite für Seite den Falz von dicken Büchern saugen, und sich zugleich über die unterschiedlichsten mehr oder weniger merkwürdigen oder spannenden Bücher-Inhalte wundern.
Den Jahrhunderte alten Patienten neues Leben einhauchen
Eine grosszügige Werkstatt bildet das Herzstück des Ateliers. Hier werden instabile Fehlstellen und Risse mit neuem Pergament oder mit eingefärbtem Japanpapier und Weizenstärkekleister restauriert (Schadensbild 1). Fehlstellen und Brüche im Wachssiegel werden mit selbst hergestellten Wachsmischungen gefestigt oder ergänzt (Schadensbild 2). Ein langwieriger Prozess ist das Planlegen von gefalteten und gerollten Urkunden. Für ein langfristiges Glätten müssen die Urkunden zuerst im Zedernholzkasten bei etwa 93 % relativer Luftfeuchtigkeit für ca. 48 Stunden befeuchtet werden, bis die Tierhaut weich und elastisch ist.
Verschiedene Wachsmischungen für die Siegelrestaurierung. Foto Michael Baumberger – chicshot.ch
Danach werden die Urkunden auf dem Unterdrucktisch für ungefähr eine Stunde plangelegt, bis man das Pergament trocken und glatt entnehmen kann. Schlussendlich kommen die Urkunden für 3 Monate in die Stockpresse, um eine nachhaltige Formstabilität zu erreichen. Über das Jahr füllen sich diese Pressen zu einem Berg von Urkunden, die mit den herausbaumelnden Siegeln aller Art einen sehr schönen Anblick bieten (siehe Titelbild). Am Ende des Restaurierungsprozesses werden gelegentlich einzelne Urkunden in ein Aufbewahrungsbehältnis montiert, worin sie gelagert oder ausgestellt werden können. Bevor die Urkunden das Atelier wieder verlassen, hält Meret auch den Nachzustandes der Objekte bildlich und textlich in der Dokumentation fest.
INFOBOX: Aktuelles Restaurierungsprojekt „Barbarossa“
Diese Urkunde stammt von Friedrich I., genannt Barbarossa, Kaiser des römisch-deutschen Reiches, der mit dieser Urkunde im Jahre 1153 das Kloster Payerne unter seinen Schutz nahm. Dieses Kloster ist bekannt für seine zahlreiche Fälschungen aus dem 12. Jahrhundert, da die Mönche für neue Rechte kämpften: Zum Beispiel wollten sie ihren eigenen Abt auch selbst wählen können. Die vorgestellte Urkunde ist allerdings echt und wird im Staatsarchiv Fribourg aufbewahrt.
Pergamenturkunde von Friedrich I. aus dem Staatsarchiv Fribourg (StAFR Payerne 4a). Links: Vorzustand des gebrochenen Wachssiegels, das in die Urkunde eingedrückt ist. Rechts: Nachzustand mit durchgedrücktem Wachssiegel nach der Restaurierung. Foto Meret Bächler
Die Pergamenturkunde von Friedrich I. wird aufgrund des durchgedrückten Siegels in einen Klettrahmen gespannt und an der Luft getrocknet.
Bei dieser Urkunde ist das Siegel nicht angehängt, sondern in das Pergament durchgedrückt. Um das Siegel nicht zu beschädigen, wurde die Urkunde nach dem Befeuchten nicht auf dem Unterdrucktisch plangelegt, sondern mit Klammern in einen Klettrahmen gespannt und an der Luft getrocknet, also ähnlich wie damals bei der Herstellung von Pergament. Danach wurde die Urkunde lokal beschwert, statt in der Stockpresse eingepresst. Dies weil das Siegel in diesem Beispiel nicht aus der Presse herauslugen konnte und zerdrückt worden wäre.
Für mehr Informationen verweisen wir gerne auf die Webseite
schriftgut-restaurierung.ch von Meret Bächler.
Autorin

Selin Scherrer
Illustrator

Michael Gehrig
Expertin

Meret Bächler
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Gut schlafen während der Pandemie
Allgemein
«La Le Lu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babys schlafen, drum schlaf auch du»… Stopp: Sie nicht! Zurück zum Mann im Mond: Zum Schlafbeobachter vom Erdtrabanten gesellt sich ein ganzes Team um das «Baby Schlaflabor» der Universität Freiburg. Ihr Ziel: Den Schlaf von Babys und Kleinkindern während des ersten Lockdowns der Covid-19-Pandemie untersuchen. Gesagt – getan, mit spannenden Ergebnissen und Erkenntnissen.
Nicole Basieux und Luisa Morell | 24.07.2021
Bild von Pixabay
Wer schon mal nicht ein- oder durchschlafen konnte, weiss, wie Schlafstörungen einem ans Lebendige gehen können. Kein Wunder, dass Schlafentzug auch immer wieder als Foltermethode eingesetzt wird. Sei es beispielsweise, um klares Denken zu unterbinden oder um den Willen sowie die Widerstandskraft einer betroffenen Person zu brechen und so allenfalls Aussagen zu erzwingen. Schlafentzug kann schon bei einem Erwachsenen sehr viele unangenehme Effekte und Nebenwirkungen provozieren.
Mehr Aufmerksamkeits- und Verhaltensprobleme
Auch bei Babys und Kleinkindern konnte in Studien gezeigt werden, dass das Schlafmuster offenbar eine Rolle spielt bei später festgestellten Aufmerksamkeitsproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten. Die Schlafqualität im Kindheitsalter scheint massgeblich mit der Entwicklung des Gehirns zusammenzuhängen. Unbehandelte chronische Schlafstörungen könnten somit theoretisch zu einer Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung, neuronalen Schäden und einem dauerhaften Verlust von Entwicklungspotentialen führen. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Schlafverlust die Melatoninproduktion der Zirbeldrüse, die sich im Zwischenhirn befindet, beeinträchtigt, wie das Forscherteam um James E. Jan im Jahr 2010 vermutet hat.
Auch, wenn man Fruchtfliegen oder Mäuse nicht ausreichend schlafen lässt, zeigten diverse Studienergebnisse, dass ihre Leistungsfähigkeiten, wie zum Beispiel ihr Kurzzeitgedächtnis geschwächt oder ihre Reaktionen gehemmt sind. Schlaf ist also relevant für die Entwicklung und insbesondere für die Entwicklung des Gehirns, was einen wesentlichen Einfluss auf das spätere Verhalten von Kindern haben könnte. Was viele Studien zeigten, ist eine Korrelation mit chronischen Schlafproblemen im Vorschulalter und späteren Auffälligkeiten.
Lockdown als «Freilandexperiment»
Zurück in der Schweiz und zurück im Hier und Jetzt. Zurück in Zeiten des Coronavirus’. Wie veränderte sich der Schlaf bei Babys und Kleinkindern während des Covid-19-Lockdowns im vergangenen Frühling? Dieser Frage ging das Team der Schweizer SchlafforscherInnen um Salome Kurth und Andjela Markovic in einer Fragebogenstudie, die in fünf Sprachen übersetzt wurde, nach. 781 Familien mit 864 Kindern im Alter von null bis sechs Jahren haben an der Studie teilgenommen. Die StudienteilnehmerInnen erhielten ab April 2020 jeweils einmal im Monat einen Fragebogen, wobei die Eltern diesen dann ausgefüllt haben. «Wir haben mit dieser Studie zwei Perspektiven angeschaut: Zum einen wollten wir wissen, wie die ProbandInnen während des Lockdowns schlafen und zum anderen interessierte uns, wie sich der Schlaf vor dem Lockdown verhalten hat, also sozusagen eine Retrospektive», erklärt Andjela Markovic. «Und dann haben wir die beiden Perspektiven, also vor dem Lockdown und während des Lockdowns, miteinander verglichen und haben nach positiven wie negativen Faktoren, die den Schlaf beeinflussen, Ausschau gehalten.»
Besserer Schlaf dank Schutzfaktoren
Und siehe da, der Schlaf der Kinder veränderte sich signifikant während des Covid-19-Lockdowns. Und zwar schliefen die Kinder unter dem Strich schlechter. Als Grund dafür liess sich der Faktor Stress der Eltern, beispielweise durch Kurzarbeit oder fehlende Fremdbetreuung der Kinder etc., ausfindig machen, der sich dann negativ auf das Schlafverhalten der Kinder ausgewirkt hat. Jedoch konnten Kurth und ihr Team auch sogenannte Schutzfaktoren feststellen. Diese Faktoren wie zum Beispiel von den Eltern ausgeübte Achtsamkeitsübungen wie Yoga sowie die Anwesenheit von Geschwistern oder Haustieren, wirkten sich positiv auf das Schlafverhalten der Babys und Kleinkinder aus. Man kann also sagen, sie wirken als Schutz. Auch die mit den Kindern verbrachte Zeit beeinflusste den Kleinkinderschlaf positiv. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Eltern die Zeit mit ihren Kindern aktiv oder bei einem Baby zum Beispiel passiv beim Arbeiten im Homeoffice verbrachten.
Stress lässt schlechter schlafen
«Wir können sagen, dass das Schlafverhalten in den ersten Wochen des Lockdowns akut schlechter geworden ist. Es hat sich jedoch innert eines Monats wieder verbessert. Und die positiven Folgen durch die Schutzfaktoren waren auch langfristig noch vorhanden», ergänzt Markovic. «Es gibt also einen Zusammenhang zwischen Stress und Schlaf», so die kurze Fassung. Spannend sei es nun, das Schlafverhalten in einen grösseren Kontext zu stellen und dies auch langfristig zu untersuchen und analysieren. Die Covid-19-Pandemie bietet in diesem Zusammenhang eine grosse Chance als echtes «Freilandexperiment». «Darum werden wir nun auch ein paar Monate nach dem Lockdown Fragebogen verschicken und diese dann auswerten», erklärt die junge Forscherin.
„Wir können sagen, dass das Schlafverhalten in den ersten Wochen des Lockdowns akut schlechter geworden ist. Es hat sich jedoch innert einem Monat wieder verbessert.“
Was verbindet Schlaf, Gehirn und Darm?
Das Team arbeitet auch mit dem Universitätsspital Zürich zusammen an einem anderen und nicht minder grossen Projekt. Und zwar interessiert es sich für den Zusammenhang zwischen Schlaf, Gehirn und Darm. Dazu führt das Forschungsteam eine aufwändige Studie durch, die mehrere Jahre lang dauert. Der Schlaf-Wach-Rhythmus soll mittels Sensoren unter anderem auch bereits beim Ungeborenen und seiner Mutter aufgezeichnet und analysiert werden.
Infobox: Aufruf zu neuer Studie – Machen Sie mit!
Das Forscherteam um die Assistenzprofessorin Salome Kurth sucht immer wieder nach interessierten Familien für weitere Studien.
«Das Babyschlaflabor an der Psychologischen Abteilung der Universität Freiburg in der Schweiz führt ein Forschungsprojekt durch, mit dem Ziel zu testen, ob und wie die aktuelle Covid-19-Pandemie den Schlaf von Kleinkindern beeinflusst.
Wir laden Sie herzlich ein, an unserer Online-Schlafstudie teilzunehmen, die etwa 20 Minuten dauern wird. Bei einer Verlosung können Sie tolle Geschenke gewinnen.»
– Video auf Deutsch: Link
– Vidéo en Français: Link
– Video in English: Link
Der Fragebogen kann auf Deutsch, Französisch und Englisch ausgefüllt werden unter: Link
Weiterführende Links:
– Youtube Film über die Studie
– Forschungsseite Universität Freiburg
– babysleep.ch
«Studien zeigen, dass die biologische Uhr, die unsere Schlaf-Wach-Rhythmen prägt, bereits vor der Geburt zu ticken beginnt. Über das Schlafverhalten eines Fötus wissen wir jedoch nur wenig. Die Messung des fötalen Schlafs soll daher Einblicke in die allererste Entwicklung der Schlafregulation geben», erläutert Salome Kurth. Das Forscherteam um Salome Kurth und Andjela Markovic setzt sich für eine optimale Entwicklung im Kindheitsalter sowie eine gute psychische Gesundheit – und für einen tiefen, gesunden Schlaf – ein. «La Le Lu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babys schlafen, drum schlaf auch du»… Guten Schlaf… Gute Nacht…
Weitere, spannende WIBLO-Artikel findest Du hier
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Bild von Pixabay
Wer schon mal nicht ein- oder durchschlafen konnte, weiss, wie Schlafstörungen einem ans Lebendige gehen können. Kein Wunder, dass Schlafentzug auch immer wieder als Foltermethode eingesetzt wird. Sei es beispielsweise, um klares Denken zu unterbinden oder um den Willen sowie die Widerstandskraft einer betroffenen Person zu brechen und so allenfalls Aussagen zu erzwingen. Schlafentzug kann schon bei einem Erwachsenen sehr viele unangenehme Effekte und Nebenwirkungen provozieren.
Mehr Aufmerksamkeits- und Verhaltensprobleme
Auch bei Babys und Kleinkindern konnte in Studien gezeigt werden, dass das Schlafmuster offenbar eine Rolle spielt bei später festgestellten Aufmerksamkeitsproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten. Die Schlafqualität im Kindheitsalter scheint massgeblich mit der Entwicklung des Gehirns zusammenzuhängen. Unbehandelte chronische Schlafstörungen könnten somit theoretisch zu einer Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung, neuronalen Schäden und einem dauerhaften Verlust von Entwicklungspotentialen führen. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Schlafverlust die Melatoninproduktion der Zirbeldrüse, die sich im Zwischenhirn befindet, beeinträchtigt, wie das Forscherteam um James E. Jan im Jahr 2010 vermutet hat.
Auch, wenn man Fruchtfliegen oder Mäuse nicht ausreichend schlafen lässt, zeigten diverse Studienergebnisse, dass ihre Leistungsfähigkeiten, wie zum Beispiel ihr Kurzzeitgedächtnis geschwächt oder ihre Reaktionen gehemmt sind. Schlaf ist also relevant für die Entwicklung und insbesondere für die Entwicklung des Gehirns, was einen wesentlichen Einfluss auf das spätere Verhalten von Kindern haben könnte. Was viele Studien zeigten, ist eine Korrelation mit chronischen Schlafproblemen im Vorschulalter und späteren Auffälligkeiten.
Lockdown als «Freilandexperiment»
Zurück in der Schweiz und zurück im Hier und Jetzt. Zurück in Zeiten des Coronavirus’. Wie veränderte sich der Schlaf bei Babys und Kleinkindern während des Covid-19-Lockdowns im vergangenen Frühling? Dieser Frage ging das Team der Schweizer SchlafforscherInnen um Salome Kurth und Andjela Markovic in einer Fragebogenstudie, die in fünf Sprachen übersetzt wurde, nach. 781 Familien mit 864 Kindern im Alter von null bis sechs Jahren haben an der Studie teilgenommen. Die StudienteilnehmerInnen erhielten ab April 2020 jeweils einmal im Monat einen Fragebogen, wobei die Eltern diesen dann ausgefüllt haben. «Wir haben mit dieser Studie zwei Perspektiven angeschaut: Zum einen wollten wir wissen, wie die ProbandInnen während des Lockdowns schlafen und zum anderen interessierte uns, wie sich der Schlaf vor dem Lockdown verhalten hat, also sozusagen eine Retrospektive», erklärt Andjela Markovic. «Und dann haben wir die beiden Perspektiven, also vor dem Lockdown und während des Lockdowns, miteinander verglichen und haben nach positiven wie negativen Faktoren, die den Schlaf beeinflussen, Ausschau gehalten.»
Besserer Schlaf dank Schutzfaktoren
Und siehe da, der Schlaf der Kinder veränderte sich signifikant während des Covid-19-Lockdowns. Und zwar schliefen die Kinder unter dem Strich schlechter. Als Grund dafür liess sich der Faktor Stress der Eltern, beispielweise durch Kurzarbeit oder fehlende Fremdbetreuung der Kinder etc., ausfindig machen, der sich dann negativ auf das Schlafverhalten der Kinder ausgewirkt hat. Jedoch konnten Kurth und ihr Team auch sogenannte Schutzfaktoren feststellen. Diese Faktoren wie zum Beispiel von den Eltern ausgeübte Achtsamkeitsübungen wie Yoga sowie die Anwesenheit von Geschwistern oder Haustieren, wirkten sich positiv auf das Schlafverhalten der Babys und Kleinkinder aus. Man kann also sagen, sie wirken als Schutz. Auch die mit den Kindern verbrachte Zeit beeinflusste den Kleinkinderschlaf positiv. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Eltern die Zeit mit ihren Kindern aktiv oder bei einem Baby zum Beispiel passiv beim Arbeiten im Homeoffice verbrachten.
Stress lässt schlechter schlafen
«Wir können sagen, dass das Schlafverhalten in den ersten Wochen des Lockdowns akut schlechter geworden ist. Es hat sich jedoch innert eines Monats wieder verbessert. Und die positiven Folgen durch die Schutzfaktoren waren auch langfristig noch vorhanden», ergänzt Markovic. «Es gibt also einen Zusammenhang zwischen Stress und Schlaf», so die kurze Fassung. Spannend sei es nun, das Schlafverhalten in einen grösseren Kontext zu stellen und dies auch langfristig zu untersuchen und analysieren. Die Covid-19-Pandemie bietet in diesem Zusammenhang eine grosse Chance als echtes «Freilandexperiment». «Darum werden wir nun auch ein paar Monate nach dem Lockdown Fragebogen verschicken und diese dann auswerten», erklärt die junge Forscherin.
„Wir können sagen, dass das Schlafverhalten in den ersten Wochen des Lockdowns akut schlechter geworden ist. Es hat sich jedoch innert einem Monat wieder verbessert.“
Was verbindet Schlaf, Gehirn und Darm?
Das Team arbeitet auch mit dem Universitätsspital Zürich zusammen an einem anderen und nicht minder grossen Projekt. Und zwar interessiert es sich für den Zusammenhang zwischen Schlaf, Gehirn und Darm. Dazu führt das Forschungsteam eine aufwändige Studie durch, die mehrere Jahre lang dauert. Der Schlaf-Wach-Rhythmus soll mittels Sensoren unter anderem auch bereits beim Ungeborenen und seiner Mutter aufgezeichnet und analysiert werden.
Infobox: Aufruf zu neuer Studie – Machen Sie mit!
Das Forscherteam um die Assistenzprofessorin Salome Kurth sucht immer wieder nach interessierten Familien für weitere Studien.
«Das Babyschlaflabor an der Psychologischen Abteilung der Universität Freiburg in der Schweiz führt ein Forschungsprojekt durch, mit dem Ziel zu testen, ob und wie die aktuelle Covid-19-Pandemie den Schlaf von Kleinkindern beeinflusst.
Wir laden Sie herzlich ein, an unserer Online-Schlafstudie teilzunehmen, die etwa 20 Minuten dauern wird. Bei einer Verlosung können Sie tolle Geschenke gewinnen.»
– Video auf Deutsch: Link
– Vidéo en Français: Link
– Video in English: Link
Der Fragebogen kann auf Deutsch, Französisch und Englisch ausgefüllt werden unter: Link
Weiterführende Links:
– Youtube Film über die Studie
– Forschungsseite Universität Freiburg
– babysleep.ch
«Studien zeigen, dass die biologische Uhr, die unsere Schlaf-Wach-Rhythmen prägt, bereits vor der Geburt zu ticken beginnt. Über das Schlafverhalten eines Fötus wissen wir jedoch nur wenig. Die Messung des fötalen Schlafs soll daher Einblicke in die allererste Entwicklung der Schlafregulation geben», erläutert Salome Kurth. Das Forscherteam um Salome Kurth und Andjela Markovic setzt sich für eine optimale Entwicklung im Kindheitsalter sowie eine gute psychische Gesundheit – und für einen tiefen, gesunden Schlaf – ein. «La Le Lu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babys schlafen, drum schlaf auch du»… Guten Schlaf… Gute Nacht…
Weitere, spannende WIBLO-Artikel findest Du hier
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Möchtest Du unsere Initiative für objektiven, Schweizer Wissenschaftsjournalismus unterstützen? Bereits mit einem kleinen Betrag in der Höhe eines leckeren Kaffees hilfst Du uns, weitere spannende Artikel zu ermöglichen Vielen Dank!
Autorin

Nicole Basieux
Illustratorin

Luisa Morell
Expertin Uni Freiburg

Andjela Markovic
Expertin Uni Freiburg

Salome Kurth
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Bienenfresser ziehen mit Rucksäckchen in den Süden
Allgemein
Eine kleine Gruppe von Bienenfressern formiert sich und jagt in der Luft gemeinsam Grossinsekten. Und das notabene auf dem Weg ins Winterquartier in Afrika. Dank kleinster Elektronik ist es heute möglich, anhand von Luftdruck-, Licht- und Beschleunigungssensoren ebendiese Art detaillierter Vogelzugforschung zu betreiben. Zu Besuch bei ForscherInnen der Schweizerischen Vogelwarte in Sempach.
Sebastian Bächler, Luisa Morell und Rahel Kern | 03.03.2021
Foto Bienenfresser von Richard Constatinoff auf i-Stock
Titelillustration von Rahel Kern
Noch bis vor kurzem wusste man über das Zugverhalten von kleinen Vögeln lediglich den ungefähren Abflugzeitpunkt, die grobe Flugroute, vielleicht den Ort des Winterquartiers im Süden und das Eintreffen der Rückkehrer zu Beginn unseres heimischen Frühlings. Die heutige Zugvogelforschung möchte die Lücken dazwischen nun schliessen. Welche Route fliegen die Zugvögel genau? Wie viele Stopps tätigen sie während der Reise und wo? Wo und wann sind sie den grössten Gefahren ausgesetzt?
Durch die Jahreszeiten, der Nahrung nach
Der Zug ist für Vögel eine Überlebensstrategie, um Zeiten mit Nahrungsknappheit zu umgehen. „Er birgt für die Zugvögel allerdings auch viele Risiken und ist äusserst energieaufwändig“, sagt Silke Bauer, Biologin und Forscherin an der Schweizerischen Vogelwarte im luzernischen Sempach. Schätzungsweise 50 Milliarden Vögel machen sich weltweit jährlich auf den Weg in ihre Winterquartiere. Mit dabei sind grosse Vögel wie zum Beispiel Gänse, aber auch kleinere Exemplare wie die in der Schweiz brütende Nachtigall.
„Die Schweizerische Vogelwarte Sempach konnte kürzlich aufzeigen, dass der Bienenfresser mit den immer gleichen Vogel-Freunden in den Süden zieht.“
Viele Vogelarten wählen meist Zugrouten mit für sie günstigen Windverhältnissen, sprich Rückenwind. Grosse Vögel, wie beispielsweise Störche oder Greifvögel, setzen zudem auf möglichst viel Thermik. Thermik findet man wenig bis gar nicht über Gewässern. Eine Hauptroute von Europa nach Afrika führt daher über Gibraltar. Eine andere, ebenfalls beliebte Route verläuft im Osten und führt über die Türkei und Israel. Nebst Wind und Thermik hat auch die Verfügbarkeit geeigneter Rastplätze Einfluss auf die Flugroute.
INFOBOX: Methoden zur Einzelverfolgung von Vögeln
Beringung
Die wohl bekannteste und älteste Methode der Einzelverfolgung von Zugvögeln, bei welcher der Vogel mit einem nummerierten Metallring ausgestattet wird. Informationen erhält man in erster Linie durch Zufall, wenn der Vogel tot aufgefunden, irgendwo beobachtet oder im Rahmen der Zugvogelforschung wieder eingefangen wird. Die örtlichen Informationen sind rudimentär und beschränken sich auf den Beringungsort und den Ort des Wiederfundes.
Satellitentelemetrie
Individuelle Sendeeinheit pro Vogel. Dieses Signal kann von Satelliten während den Überflügen empfangen und an die Bodenstation weitergeleitet werden, was eine Rückverfolgung in nahezu Echtzeit ermöglicht. Die Ausrüstung ist aufgrund des erforderlichen Energiebedarfs der Sender und der dafür benötigten Batterien relativ schwer, weswegen die Methode für Kleinvögel nicht geeignet ist.
Link Argos-Satelliten-Service
Geolokalisierung
Multisensor-Logger sind leicht und können daher auch bei kleinen Vögeln verwendet werden. Sie zeichnen verschiedenste Daten auf, senden aber nicht. Die Daten können nur ausgelesen werden, wenn durch Wiedereinfangen des Vogels der Multisensor-Logger zurückgewonnen wird.
Sinn und Zweck der Zugvogelforschung ist nicht einzig das Analysieren des Zugverhaltens einer bestimmten Art. So suchen die ForscherInnen zum Beispiel auch nach Gesetzmässigkeiten des Vogelzugs über verschiedene Vogelarten hinweg. Der Forschungsansatz geht heute sogar so weit, dass auch das Migrationsverhalten anderer Tierarten mit in die Forschung einfliesst. So können grössere Zusammenhänge innerhalb von Ökosystemen aufgezeigt werden. Im Nachgang lassen sich dann im Idealfall auch Schlussfolgerungen zum Schutz einzelner Zugvogelarten ableiten.
„Ergänzend zur individuellen Zugvogelortung wird zurzeit versucht, mit der Infrastruktur bereits bestehender Wetter-Radaranlagen verschiedenster Länder die Biomasse ziehender Vögel abzuschätzen“, so Silke Bauer. Im Bereich der Einzelverfolgung von Zugvögeln bietet die Geolokalisation mittels Multisensor-Logger aufgrund der fortschreitenden Miniaturisierung der Elektronik spannende Forschungsmöglichkeiten.
INFOBOX: Multisensor-Logger
Ein Multisensor-Datenlogger ist ein elektronisches Bauteil, welches mittels Sensoren verschiedene Umweltparameter wie beispielsweise die Lichtintensität oder die Temperatur messen und aufzeichnen kann. Die Messwerte werden dann meist lokal auf einem Speichermedium (z.B. microSD Card) gespeichert und können später nach dem Auslesen weiterverarbeitet und zur Bestimmung der geographischen Länge und Breite umgerechnet werden.
Eine 1.3 Gramm-Wetterstation auf dem Vogelrücken
Vielleicht besitzen Sie eine Wetterstation Zuhause? Dann können Sie in aller Regel die Aussentemperatur, den Umgebungsdruck und die Windgeschwindigkeit messen. Eventuell auch noch etwas mehr. Jetzt stellen Sie sich diese Wetterstation als kleinen Rucksack vor, circa 0.6 bis 1.3 Gramm schwer und nicht viel grösser als ein Fünfrappenstück. Denn insgesamt soll der Logger nicht mehr als 5 % des Vogelgewichts überschreiten (vgl. eine erwachsene Nachtigall wiegt ca. 20 Gramm). Dieser Logger mit dem Namen GDL3PAM wurde durch das Bundesamt für Umwelt BAFU finanziert und unter der Ägide der Berner Fachhochschule BFH, Abteilung Technik und Informatik, in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Vogelwarte Sempach entwickelt.
Der GDL3PAM ist in der Lage, die Zeit, die Lichtintensität der Umgebung, die Umgebungstemperatur, den Luftdruck, die Beschleunigungen in allen drei Achsen X, Y und Z sowie die Veränderungen des Erdmagnetfelds aufzuzeichnen. Ein weiteres Ziel der Entwicklung war es, dass die Energieversorgung des Loggers genügt, um einen ganzen Jahreszyklus vom Brutplatz über den Vogelzug ins Winterquartier und zurück aufzeichnen zu können.
Ein weiterer, bereits geplanter Entwicklungsschritt ist der Einbau eines Signals, das ermöglicht, zu bestimmen, wann und wo ein Vogel gestorben ist. Zudem wird zurzeit daran gearbeitet, die bereits vorhandenen Daten des Erdmagnetfeldes zur Verbesserung der Positionsbestimmung mit einzubeziehen. Auch sollen die gesammelten Daten der Beschleunigungs-, Luftdruck- und Lichtsensoren in zukünftigen Analysen noch umfassender ausgewertet werden. Zum Beispiel, um Rückschlüsse über die Anzahl Flügelschläge, die Ermittlung des Energieverbrauchs sowie über die Zeiten der Nahrungsaufnahme zu gewinnen. Doch wie kann denn nun überhaupt die Position eines Vogels nur anhand einer Lichtmessung durchgeführt werden?
INFOBOX: Der Bienenfresser
Der farbenprächtige, elegante und wärmeliebende Bienenfresser ist der einzige europäische Vertreter einer weitgehend auf die Tropen und Subtropen Afrikas und Asiens beschränkten Vogelfamilie. Früher zeigte sich der Bienenfresser nur unregelmässig bei uns, hauptsächlich infolge Zugverlängerung im Frühjahr. Mittlerweile brütet dieses fliegende Juwel regelmässig in der Schweiz. Als stark spezialisierte Grossinsektenjäger haben die Vögel immer wieder Vorstösse aus dem ursprünglichen Brutgebiet im Mittelmeerraum gegen Norden unternommen. (Quelle: Schweizerische Vogelwarte Sempach)
Länge: 27-29 cm
Spannweite: 44-49 cm
Gewicht: 45-75 g
Bruthabitat: Kiesgruben, Steilufer von Fliessgewässern
Zugverhalten: Langstreckenzieher
Winterquartier: Afrika südlich der Sahara
Bestand Schweiz: 53-72 Paare (vor allem Westschweiz und Wallis)
Stimme: Link
Positionsbestimmung mittels Lichtintensität
Der Multisensor-Logger misst die Intensität des Umgebungslichts. Da sich der Logger aber unterhalb der Federn auf dem Rücken des Bienenfressers befindet, muss das Umgebungslicht über ein einem Periskop ähnelnden Lichtleiter zum Sensor geleitet werden. Zusammen mit der aufgezeichneten Uhrzeit können die ForscherInnen um Silke Bauer damit den Sonnenuntergangs- und Sonnenaufgangszeitpunkt ermitteln. Daraus kann wiederum die Tageslänge berechnet werden. Mit diesen Daten können anschliessend die geographische Länge und Breite berechnet und somit der relativ genaue Standort des Vogels bestimmt werden.
Der Fehler bei dieser Positionsermittlungs-Methode liegt aufgrund von Witterungseinflüssen wie Wolken und anderen Störfaktoren wie z.B. Waldschatten bei rund 100 bis 200 Kilometer. Gemessen an der Zugdistanz von mehreren Tausend Kilometern pro Strecke ist der Fehler überschaubar und liegt gemittelt im Bereich von unter 5 %.
Ein Bienenfresser mit Rucksäckchen
Um einen Vogel mit einem Logger auszustatten, ist eine Genehmigung durch das kantonale Veterinäramt nötig. Im Brutgebiet werden einzelne Vögel kurzzeitig gefangen und mit dem Logger ausgestattet. Der Multisensor-Logger wird mittels eines kleinen Gestältchens aus Silikon an den Beinen, auf dem Rücken zwischen den Flügeln und unter den Federn des Vogels angebracht. Um die Daten auszulesen muss der Vogel wiedergefangen werden. Gemäss Martina Schybli, Mediensprecherin der Vogelwarte Sempach, liegt die Rücklaufquote der Logger im Bereich von 30 Prozent. Wird ein mit dem Logger bestückter Bienenfresser nicht erneut gefangen, so löst sich das Rucksäckchen nach einer gewissen Zeit durch gezielte Materialalterung und Witterungseinflüsse von selbst ab. Durch die fortschreitende Miniaturisierung von Batterien rückt ein Multisensor-Logger mit integriertem Sender bei gleichbleibendem Gesamtgewicht in greifbare Nähe. Dann müssten die Vögel zum Auslesen der Daten auch nicht wieder eingefangen werden.
Und welchen Einfluss hat der Logger nun auf die damit bestückten Vögel? Ist der Vogel mit dem montierten Logger jetzt zwingend der letzte im Vogelzug? Silke Bauer verneint und meint, dass Untersuchungen gezeigt hätten, dass Logger mit einem Gewicht von maximal 5 % des Vogelgewichts keinen signifikanten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der Zugvögel haben. Dies konnte anhand von Auswertungen von Kontrollgruppen desselben Schwarms, aber auch über viele Arten hinweg bestätigt werden (Metaanalyse). Die aufgezeichneten Daten der Multisensor-Logger sind für die ForscherInnen eine wahre Fundgrube und lassen neue Erkenntnisse über das Verhalten während des Vogelzugs und im Winterquartier zu.
INFOBOX: Schweizerische Vogelwarte Sempach
Die Schweizerische Vogelwarte Sempach ist eine gemeinnützige Stiftung für Vogelkunde und Vogelschutz. Sie überwacht die einheimische Vogelwelt, erforscht ihre Lebensweise und setzt sich für die bedrohte Vogelwelt ein. Sie kümmert sich um verletzte und verwaiste Vögel, informiert und berät die Bevölkerung und betreibt in Sempach ein Besuchszentrum.
Ableitung des Sozialverhaltens aus Multisensor-Daten
Steigt ein Bienenfresser kurzfristig aus der Reiseflughöhe auf, oder sinkt zum Finden von Insekten kurzzeitig tiefer ab, so wird der abfallende oder zunehmende Umgebungsdruck im Logger registriert. Anhand der Auswertung von GDL3PAM-Multisensor-Daten einzelner Bienenfresser konnte die Schweizerische Vogelwarte kürzlich aufzeigen, dass der Bienenfresser mit den immer gleichen Vogel-Freunden in den Süden zieht, mit ihnen zusammen auf Insektenjagd geht und grösstenteils auch wieder mit denselben Vögeln zurück ins Brutgebiet fliegt. Gemäss aktuellen Analysen fliegen Bienenfresser gerne in Gruppen von vier bis fünf Individuen und sind keine Einzelgänger.
Das Winterquartier und der Klimawandel
Vor allem Langstreckenzieher haben zurzeit das Problem des sich rasch verändernden Klimas. Sie treten ihre Rückkehr aus Afrika normalerweise immer zur gleichen Zeit an, damit sie zur Zeit der höchsten Nahrungsverfügbarkeit in Europa ankommen. Nun ist aber oft der Frühling bei ihrer Ankunft bereits weit fortgeschritten und der Nahrungspeak vielleicht bereits vorbei. Besonders während der Aufzucht der Jungen, wenn viel Futter benötigt wird, kann sich dies negativ auswirken. Deshalb, aber auch aufgrund von Lebensraumveränderungen in den Brutgebieten nehmen die Bestände vieler Langstreckenzieher zurzeit ab. Der Bienenfresser als wärmeliebende Art breitet sein Brutgebiet in den letzten Jahren jedoch vermehrt nach Norden aus.
Es lohnt sich also, im kommenden Frühling Ausschau zu halten. Denn es muss sich nicht immer um einen ausgebüxten Kanarienvogel handeln, wenn in der Schweiz einmal ein Vogel mit exotischen Farben am Himmel fliegt.
Foto Bienenfresser von Richard Constatinoff auf i-Stock
Titelillustration von Rahel Kern
Noch bis vor kurzem wusste man über das Zugverhalten von kleinen Vögeln lediglich den ungefähren Abflugzeitpunkt, die grobe Flugroute, vielleicht den Ort des Winterquartiers im Süden und das Eintreffen der Rückkehrer zu Beginn unseres heimischen Frühlings. Die heutige Zugvogelforschung möchte die Lücken dazwischen nun schliessen. Welche Route fliegen die Zugvögel genau? Wie viele Stopps tätigen sie während der Reise und wo? Wo und wann sind sie den grössten Gefahren ausgesetzt?
Durch die Jahreszeiten, der Nahrung nach
Der Zug ist für Vögel eine Überlebensstrategie, um Zeiten mit Nahrungsknappheit zu umgehen. „Er birgt für die Zugvögel allerdings auch viele Risiken und ist äusserst energieaufwändig“, sagt Silke Bauer, Biologin und Forscherin an der Schweizerischen Vogelwarte im luzernischen Sempach. Schätzungsweise 50 Milliarden Vögel machen sich weltweit jährlich auf den Weg in ihre Winterquartiere. Mit dabei sind grosse Vögel wie zum Beispiel Gänse, aber auch kleinere Exemplare wie die in der Schweiz brütende Nachtigall.
„Die Schweizerische Vogelwarte Sempach konnte kürzlich aufzeigen, dass der Bienenfresser mit den immer gleichen Vogel-Freunden in den Süden zieht.“
Viele Vogelarten wählen meist Zugrouten mit für sie günstigen Windverhältnissen, sprich Rückenwind. Grosse Vögel, wie beispielsweise Störche oder Greifvögel, setzen zudem auf möglichst viel Thermik. Thermik findet man wenig bis gar nicht über Gewässern. Eine Hauptroute von Europa nach Afrika führt daher über Gibraltar. Eine andere, ebenfalls beliebte Route verläuft im Osten und führt über die Türkei und Israel. Nebst Wind und Thermik hat auch die Verfügbarkeit geeigneter Rastplätze Einfluss auf die Flugroute.
INFOBOX: Methoden zur Einzelverfolgung von Vögeln
Beringung
Die wohl bekannteste und älteste Methode der Einzelverfolgung von Zugvögeln, bei welcher der Vogel mit einem nummerierten Metallring ausgestattet wird. Informationen erhält man in erster Linie durch Zufall, wenn der Vogel tot aufgefunden, irgendwo beobachtet oder im Rahmen der Zugvogelforschung wieder eingefangen wird. Die örtlichen Informationen sind rudimentär und beschränken sich auf den Beringungsort und den Ort des Wiederfundes.
Satellitentelemetrie
Individuelle Sendeeinheit pro Vogel. Dieses Signal kann von Satelliten während den Überflügen empfangen und an die Bodenstation weitergeleitet werden, was eine Rückverfolgung in nahezu Echtzeit ermöglicht. Die Ausrüstung ist aufgrund des erforderlichen Energiebedarfs der Sender und der dafür benötigten Batterien relativ schwer, weswegen die Methode für Kleinvögel nicht geeignet ist.
Link Argos-Satelliten-Service
Geolokalisierung
Multisensor-Logger sind leicht und können daher auch bei kleinen Vögeln verwendet werden. Sie zeichnen verschiedenste Daten auf, senden aber nicht. Die Daten können nur ausgelesen werden, wenn durch Wiedereinfangen des Vogels der Multisensor-Logger zurückgewonnen wird.
Sinn und Zweck der Zugvogelforschung ist nicht einzig das Analysieren des Zugverhaltens einer bestimmten Art. So suchen die ForscherInnen zum Beispiel auch nach Gesetzmässigkeiten des Vogelzugs über verschiedene Vogelarten hinweg. Der Forschungsansatz geht heute sogar so weit, dass auch das Migrationsverhalten anderer Tierarten mit in die Forschung einfliesst. So können grössere Zusammenhänge innerhalb von Ökosystemen aufgezeigt werden. Im Nachgang lassen sich dann im Idealfall auch Schlussfolgerungen zum Schutz einzelner Zugvogelarten ableiten.
„Ergänzend zur individuellen Zugvogelortung wird zurzeit versucht, mit der Infrastruktur bereits bestehender Wetter-Radaranlagen verschiedenster Länder die Biomasse ziehender Vögel abzuschätzen“, so Silke Bauer. Im Bereich der Einzelverfolgung von Zugvögeln bietet die Geolokalisation mittels Multisensor-Logger aufgrund der fortschreitenden Miniaturisierung der Elektronik spannende Forschungsmöglichkeiten.
INFOBOX: Multisensor-Logger
Ein Multisensor-Datenlogger ist ein elektronisches Bauteil, welches mittels Sensoren verschiedene Umweltparameter wie beispielsweise die Lichtintensität oder die Temperatur messen und aufzeichnen kann. Die Messwerte werden dann meist lokal auf einem Speichermedium (z.B. microSD Card) gespeichert und können später nach dem Auslesen weiterverarbeitet und zur Bestimmung der geographischen Länge und Breite umgerechnet werden.
Eine 1.3 Gramm-Wetterstation auf dem Vogelrücken
Vielleicht besitzen Sie eine Wetterstation Zuhause? Dann können Sie in aller Regel die Aussentemperatur, den Umgebungsdruck und die Windgeschwindigkeit messen. Eventuell auch noch etwas mehr. Jetzt stellen Sie sich diese Wetterstation als kleinen Rucksack vor, circa 0.6 bis 1.3 Gramm schwer und nicht viel grösser als ein Fünfrappenstück. Denn insgesamt soll der Logger nicht mehr als 5 % des Vogelgewichts überschreiten (vgl. eine erwachsene Nachtigall wiegt ca. 20 Gramm). Dieser Logger mit dem Namen GDL3PAM wurde durch das Bundesamt für Umwelt BAFU finanziert und unter der Ägide der Berner Fachhochschule BFH, Abteilung Technik und Informatik, in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Vogelwarte Sempach entwickelt.
Der GDL3PAM ist in der Lage, die Zeit, die Lichtintensität der Umgebung, die Umgebungstemperatur, den Luftdruck, die Beschleunigungen in allen drei Achsen X, Y und Z sowie die Veränderungen des Erdmagnetfelds aufzuzeichnen. Ein weiteres Ziel der Entwicklung war es, dass die Energieversorgung des Loggers genügt, um einen ganzen Jahreszyklus vom Brutplatz über den Vogelzug ins Winterquartier und zurück aufzeichnen zu können.
Ein weiterer, bereits geplanter Entwicklungsschritt ist der Einbau eines Signals, das ermöglicht, zu bestimmen, wann und wo ein Vogel gestorben ist. Zudem wird zurzeit daran gearbeitet, die bereits vorhandenen Daten des Erdmagnetfeldes zur Verbesserung der Positionsbestimmung mit einzubeziehen. Auch sollen die gesammelten Daten der Beschleunigungs-, Luftdruck- und Lichtsensoren in zukünftigen Analysen noch umfassender ausgewertet werden. Zum Beispiel, um Rückschlüsse über die Anzahl Flügelschläge, die Ermittlung des Energieverbrauchs sowie über die Zeiten der Nahrungsaufnahme zu gewinnen. Doch wie kann denn nun überhaupt die Position eines Vogels nur anhand einer Lichtmessung durchgeführt werden?
INFOBOX: Der Bienenfresser
Der farbenprächtige, elegante und wärmeliebende Bienenfresser ist der einzige europäische Vertreter einer weitgehend auf die Tropen und Subtropen Afrikas und Asiens beschränkten Vogelfamilie. Früher zeigte sich der Bienenfresser nur unregelmässig bei uns, hauptsächlich infolge Zugverlängerung im Frühjahr. Mittlerweile brütet dieses fliegende Juwel regelmässig in der Schweiz. Als stark spezialisierte Grossinsektenjäger haben die Vögel immer wieder Vorstösse aus dem ursprünglichen Brutgebiet im Mittelmeerraum gegen Norden unternommen. (Quelle: Schweizerische Vogelwarte Sempach)
Länge: 27-29 cm
Spannweite: 44-49 cm
Gewicht: 45-75 g
Bruthabitat: Kiesgruben, Steilufer von Fliessgewässern
Zugverhalten: Langstreckenzieher
Winterquartier: Afrika südlich der Sahara
Bestand Schweiz: 53-72 Paare (vor allem Westschweiz und Wallis)
Stimme: Link
Positionsbestimmung mittels Lichtintensität
Der Multisensor-Logger misst die Intensität des Umgebungslichts. Da sich der Logger aber unterhalb der Federn auf dem Rücken des Bienenfressers befindet, muss das Umgebungslicht über ein einem Periskop ähnelnden Lichtleiter zum Sensor geleitet werden. Zusammen mit der aufgezeichneten Uhrzeit können die ForscherInnen um Silke Bauer damit den Sonnenuntergangs- und Sonnenaufgangszeitpunkt ermitteln. Daraus kann wiederum die Tageslänge berechnet werden. Mit diesen Daten können anschliessend die geographische Länge und Breite berechnet und somit der relativ genaue Standort des Vogels bestimmt werden.
Der Fehler bei dieser Positionsermittlungs-Methode liegt aufgrund von Witterungseinflüssen wie Wolken und anderen Störfaktoren wie z.B. Waldschatten bei rund 100 bis 200 Kilometer. Gemessen an der Zugdistanz von mehreren Tausend Kilometern pro Strecke ist der Fehler überschaubar und liegt gemittelt im Bereich von unter 5 %.
Ein Bienenfresser mit Rucksäckchen
Um einen Vogel mit einem Logger auszustatten, ist eine Genehmigung durch das kantonale Veterinäramt nötig. Im Brutgebiet werden einzelne Vögel kurzzeitig gefangen und mit dem Logger ausgestattet. Der Multisensor-Logger wird mittels eines kleinen Gestältchens aus Silikon an den Beinen, auf dem Rücken zwischen den Flügeln und unter den Federn des Vogels angebracht. Um die Daten auszulesen muss der Vogel wiedergefangen werden. Gemäss Martina Schybli, Mediensprecherin der Vogelwarte Sempach, liegt die Rücklaufquote der Logger im Bereich von 30 Prozent. Wird ein mit dem Logger bestückter Bienenfresser nicht erneut gefangen, so löst sich das Rucksäckchen nach einer gewissen Zeit durch gezielte Materialalterung und Witterungseinflüsse von selbst ab. Durch die fortschreitende Miniaturisierung von Batterien rückt ein Multisensor-Logger mit integriertem Sender bei gleichbleibendem Gesamtgewicht in greifbare Nähe. Dann müssten die Vögel zum Auslesen der Daten auch nicht wieder eingefangen werden.
Und welchen Einfluss hat der Logger nun auf die damit bestückten Vögel? Ist der Vogel mit dem montierten Logger jetzt zwingend der letzte im Vogelzug? Silke Bauer verneint und meint, dass Untersuchungen gezeigt hätten, dass Logger mit einem Gewicht von maximal 5 % des Vogelgewichts keinen signifikanten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der Zugvögel haben. Dies konnte anhand von Auswertungen von Kontrollgruppen desselben Schwarms, aber auch über viele Arten hinweg bestätigt werden (Metaanalyse). Die aufgezeichneten Daten der Multisensor-Logger sind für die ForscherInnen eine wahre Fundgrube und lassen neue Erkenntnisse über das Verhalten während des Vogelzugs und im Winterquartier zu.
INFOBOX: Schweizerische Vogelwarte Sempach
Die Schweizerische Vogelwarte Sempach ist eine gemeinnützige Stiftung für Vogelkunde und Vogelschutz. Sie überwacht die einheimische Vogelwelt, erforscht ihre Lebensweise und setzt sich für die bedrohte Vogelwelt ein. Sie kümmert sich um verletzte und verwaiste Vögel, informiert und berät die Bevölkerung und betreibt in Sempach ein Besuchszentrum.
Ableitung des Sozialverhaltens aus Multisensor-Daten
Steigt ein Bienenfresser kurzfristig aus der Reiseflughöhe auf, oder sinkt zum Finden von Insekten kurzzeitig tiefer ab, so wird der abfallende oder zunehmende Umgebungsdruck im Logger registriert. Anhand der Auswertung von GDL3PAM-Multisensor-Daten einzelner Bienenfresser konnte die Schweizerische Vogelwarte kürzlich aufzeigen, dass der Bienenfresser mit den immer gleichen Vogel-Freunden in den Süden zieht, mit ihnen zusammen auf Insektenjagd geht und grösstenteils auch wieder mit denselben Vögeln zurück ins Brutgebiet fliegt. Gemäss aktuellen Analysen fliegen Bienenfresser gerne in Gruppen von vier bis fünf Individuen und sind keine Einzelgänger.
Das Winterquartier und der Klimawandel
Vor allem Langstreckenzieher haben zurzeit das Problem des sich rasch verändernden Klimas. Sie treten ihre Rückkehr aus Afrika normalerweise immer zur gleichen Zeit an, damit sie zur Zeit der höchsten Nahrungsverfügbarkeit in Europa ankommen. Nun ist aber oft der Frühling bei ihrer Ankunft bereits weit fortgeschritten und der Nahrungspeak vielleicht bereits vorbei. Besonders während der Aufzucht der Jungen, wenn viel Futter benötigt wird, kann sich dies negativ auswirken. Deshalb, aber auch aufgrund von Lebensraumveränderungen in den Brutgebieten nehmen die Bestände vieler Langstreckenzieher zurzeit ab. Der Bienenfresser als wärmeliebende Art breitet sein Brutgebiet in den letzten Jahren jedoch vermehrt nach Norden aus.
Es lohnt sich also, im kommenden Frühling Ausschau zu halten. Denn es muss sich nicht immer um einen ausgebüxten Kanarienvogel handeln, wenn in der Schweiz einmal ein Vogel mit exotischen Farben am Himmel fliegt.
Autor

Sebastian Bächler
Illustratorin

Luisa Morell
Illustratorin

Rahel Kern
Expertin Vogelwarte

Silke Bauer
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Insektenschwund in der Schweiz
Allgemein
Schon einmal von Raubwanzen, Schwebfliegen oder Schlupfwespen gehört? Sie teilen sich den Lebensraum mit der Hummel und der Biene und tummeln sich in unseren heimischen Wiesen – auf der Suche nach Nahrung. Doch die wird zunehmend knapper; auch hierzulande. Und die kleinen Tierchen? Sie sind vom Aussterben bedroht, bevor wir sie überhaupt richtig kennenlernen durften. Allerhöchste Zeit also, ihnen im Gespräch mit Prof. Hans Ramseier von der Berner Fachhochschule ein wenig mehr Platz einzuräumen.
Rebecca Geyer und Luisa Morell | 26.12.2020
Magerwiese in Graubünden, Foto WIBLO 2020
Lassen wir uns auf ein Gedankenspiel ein: Es ist Sommeranfang 1995 und wir sitzen im alten Diesel auf dem Weg nach Italien. Gegen Sonnenuntergang halten wir an einer Tankstelle, um für die letzten Kilometer aufzutanken. Zurück im Wagen sind wir nun an der Stelle angekommen, an der die Geschichte heute anders erzählt werden würde als damals. Während wir heute einfach den Zündschlüssel im Schloss umdrehen und weiterfahren würden, hätten wir damals wahrscheinlich kaum durch die mit Fliegen und Mücken übersäte Windschutzscheibe hindurchschauen können.
Die Erinnerung trügt nicht
Diese Geschichte ist sehr prominent und hat viele Facetten. Vor allem aber ist sie nicht Teil einer verwaschenen Erinnerung, sondern traurigerweise wahr. Hans Ramseier hat sie schon unzählige Male in seinem Umfeld gehört. Er ist Professor für Pflanzenschutz und ökologischen Ausgleich an der Berner Fachhochschule in Zollikofen und arbeitet seit einigen Jahren an einem Forschungsprojekt, das dem Insektensterben entgegenwirken soll. Mehr als die eigenen Erfahrungen und Berichte von Landwirten besitzt er aber nicht; konkrete Zahlen gäbe es für die Schweiz keine.
Dass es ernst wird, ist allerdings gewiss. Weltweit wird ein erheblicher Rückgang von Insekten verzeichnet, und mit ihnen schwinden die Bodenfruchtbarkeit, die Nahrungsgrundlage anderer Arten und die natürliche Schädlingsabwehr. Es wird angenommen, dass rund 90 Prozent unserer Wildpflanzen auf Insekten als Bestäuber angewiesen sind. Knapp ein Zehntel der weltweiten landwirtschaftlichen Produktionsmenge ist abhängig von ihnen (Akademien der Wissenschaften Schweiz, 2019). Doch was führt hierzulande dazu, dass es immer weniger Insekten zu finden gibt?
„Die genauen Ursachen für das Insektensterben sind vielschichtig. Ein Kombinationseffekt aus Pestiziden, Trachtlücken und Krankheiten.“
Die genauen Ursachen sind laut Ramseier vielschichtig: „Aus meiner Sicht ist in der Schweiz der Pestizideinsatz nicht der einzige Faktor. Ich denke, ganz wesentlich ist auch die Trachtlücke (siehe Infobox) im Sommer, die dazu führt, dass einfach zu wenig Nahrung vorhanden ist. Dazu kommen Krankheiten und die Pflanzenschutzmittel. Häufig ist es dann ein Kombinationseffekt. Das heisst, wenn zu wenig Nahrung zur Verfügung steht, sind die Individuen sowieso geschwächt und eine zusätzliche Belastung durch Pflanzenschutzmittel macht die Auswirkungen noch gravierender. Die Insekten, wie z.B. die Wildbienen, überwintern folglich weniger gut. Wenn sie am Ende sehr weit fliegen müssen um zur Nahrungsquelle zu kommen, gibt es weniger Nachkommen. All das endet dann in einer Art Abwärtsspirale.“
INFOBOX: TRACHTLÜCKEN
Als Trachtlücke versteht sich der Zeitraum, in dem nur wenig Nahrung für Insekten bereitsteht. Sie ist durch die Ernte der landwirtschaftlichen Felder und Wiesen bedingt. Trachtlücken können zu verschiedenen Zeitpunkten im Jahr auftreten. Oft entstehen sie schon im Frühjahr ab Ende Mai und reichen bis in den Sommer hinein. Für den Zeitraum von Juli bis Ende September spricht man von Spätsommertrachtlücken.
Aufgrund des reduzierten Nahrungsangebots sind die Insekten geschwächt und anfälliger für Krankheiten und Schädlinge. In der Folge kann es sein, dass sie abwandern, oder geschwächt in die Wintersaison starten und sich weniger vermehren oder gar vorzeitig sterben.
Link zum Projekt
Von der Idee zum praxisnahen Forschungsprojekt
Zusammen mit einem ehemaligen Studenten, der unter anderem Landwirt und Bienenhalter ist, beschloss Ramseier 2011, sich die Schliessung jener Trachtlücke zur Aufgabe zu machen. Seither entwickeln sie Saatgutmischungen für Landwirte, die diese auf ihren Flächen auf sogenannten Blühstreifen aussähen. Die Mischungen sind attraktiv für Bienen und andere landwirtschaftliche Nützlinge und bieten eine dauerhaft blütenreiche Anlaufstelle in den nahrungsarmen Monaten. Die Aussaat der Mischungen und die Unterhaltung der Blühstreifen müssen aber auch insbesondere für die Landwirte ohne grossen Mehraufwand einhergehen.
„Raubwanzen werden als landwirtschaftliche Nützlinge bezeichnet, da sie der natürlichen Schädlingsbekämpfung dienen.“
Für ihr Vorhaben konnten sie zu Beginn gleich den Berner Bauernverband und den Schweizer Imkerverbund apisuisse, sowie später das Bundesamt für Landwirtschaft als Geldgeber überzeugen. Warum die Nähe zu den PraxispartnerInnen so wichtig ist? „Den Berner Bauernverband haben wir soweit in die Pflicht genommen, dass er das Projekt in seinen Reihen breit kommuniziert und uns Betriebe nennt, die mitmachen. Die Bienenleute haben wir vor allem ins Boot geholt, damit wir von vorne weg bei diesen Mischungszusammenstellungen auch ihre Meinung mitnehmen und von ihrem Fachwissen profitieren können. Und so haben wir eine kleine Arbeitsgruppe gebildet und sind dann relativ rasch gestartet.“
INFOBOX: 5 TIPPS WIE JEDER ETWAS DAGEGEN TUN KANN
– Säen. Blühende Pflanzen helfen Insekten
– Beim Mähen einige wilde Ecken und Winkel stehen lassen
– Auf Unkrautvernichtungsmittel verzichten
– Nachbarn sensibilisieren
– Wann immer möglich, Bio-Produkte kaufen
Link zum Artikel auf ZDF
Zwischenstand nach neun Jahren Projektlaufzeit
Das Projekt steht nach mittlerweile neun Jahren auf der Zielgeraden. Professor Ramseier ist soweit zufrieden; sein Team kann viel Positives vorweisen. Die Honig- und Wildbienen springen auf die Pflanzen der Blühstreifen an. Es wurde sogar nachgewiesen, dass die Bienen die Pollen aus den Mischungen in ihren Stock eintragen (Ramseier, 2018). Der erste Meilenstein dann 2015, als eine erprobte Mischung vom Bundesrat zugelassen und bewilligt wurde. Es konnte zusätzlich festgestellt werden, dass nebst den Bienen auch weitere Insekten von den Blühstreifen profitieren, so beispielsweise die Schwebfliegen und Raubwanzen. Sie werden als landwirtschaftliche Nützlinge bezeichnet, da sie der natürlichen Schädlingsbekämpfung dienen.
INFOBOX: ROTE LISTEN
Die „International Union For Conservation Nature’s Red List (IUCN Red List) of Threatened Species“ ist seit Jahrzehnten ein Indikator für die weltweit vom Aussterben bedrohten Tier-, Pflanzen, und Pilzarten. Die Roten Listen dienen als Grundlage für diverse Entscheidungen oder Forderungen von Nichtregierungsorganisationen. Neben jenen Listen existieren – teils davon abgeleitete – nationale Listen. Auch das Bundesamt für Umwelt der Schweiz veröffentlicht in regelmässigen Abständen Rote Listen zu verschiedenen Artengruppen.
Link zur IUCN
„Die Raubwanzen, als Gruppe ganz wichtige Nützlinge, haben uns insofern überrascht, als dass sie sehr viel stärker aufgetreten sind, als erwartet. Wir haben teilweise festgestellt, dass die Blühstreifen sehr wertvolle Ersatzhabitate sein können, wenn die Extensivwiesen gemäht werden. Das heisst: Gerade Raubwanzen halten sich sehr gerne in Extensivwiesen auf und wenn die ca. Mitte Juni gemäht werden, so wandern vor allem die Raubwanzen, aber auch andere Insekten in die Blühstreifen ab.“ Im Abgleich mit verschiedenen Listen tauchten auch immer wieder gefährdete Arten auf und solche, die auf der Roten Liste vermerkt seien, so Ramseier.
Den Blühstreifen fehlt es an Attraktivität
Aber was sagt der Praxistest? „Eigentlich ist die gesamtschweizerische Fläche, die aktuell mit Blühstreifen angelegt wird, enttäuschend niedrig und beschränkt sich auf die Versuchsstandorte im Rahmen des Projekts. Die Mehrheit davon liegt im Kanton Bern, ganz klar bedingt durch unsere Forschung, denn wir haben recht häufig festgestellt, dass wenn die Landwirte bereit sind mitzumachen, diese schnell überzeugt sind und die Blühstreifen weiterführen. Aber insgesamt genügt die Entschädigung vonseiten des Bundes nicht. Das heisst, jeder Bauer, der im Moment Blühstreifen sät, legt Geld oben drauf. Wir haben höhere Direktzahlungsbeiträge gefordert. Diese wurden jedoch leider abgelehnt. Folglich bedeutet das: Es gibt 2500 Schweizer Franken pro Hektar, auf der Kostenseite kommen jedoch 600 Schweizer Franken Saatgut hinzu, weiter die Aussaat und die Pflege der Blühstreifen. Unter dem Strich ist es für viele Bauern weniger lukrativ als jede andere landwirtschaftliche Kultur“, so Ramseier.
„Wenn es schön blüht und es summt, dann ist das auch ein Erlebnis, das forschungsteilnehmenden Bauern gefällt. Mit dem Resultat, dass einige Bauern die Pflege der Blühstreifen freiwillig weiterführen.“
Damit die blühende Wiese sich im gleichen Masse für Landwirte wie auch für ihre Bewohner lohnt, ist die Forschungsgruppe weiter im Gespräch mit dem Bund. Nur dann bestehe die Chance, dass sich mehr Landwirte dem Projekt auch über die offizielle Laufzeit hinaus anschliessen und sich die Blühstreifen in der Praxis etablieren. Neben den marktreifen bestehenden einjährigen Mischungen soll eine weitere, mehrjährige Mischung vom Bund bewilligt werden. Die Chancen stehen gut, denn die bisherigen Resultate aus den Testläufen zeigen, dass vor allem spezialisierte Wildbienen, die nur bestimmte Pflanzenarten als Nahrungsquelle ansteuern, auf die mehrjährigen Mischungen ansprechen.
Englischer Rasen kompensiert mit Bienenhotels ist keine Lösung
Die Forschung macht also eindeutige Schritte hierzulande, aber ist die Problematik auch bei den SchweizerInnen angekommen? Ramseier vernimmt eine immer grössere Sensibilisierung und Offenheit gegenüber der Thematik. Dazu beigetragen haben unter anderem die erschreckenden Ergebnisse der ForscherInnengruppe der Krefeld-Studie aus Deutschland und der preisgekrönte Schweizer Dokumentarfilm „More than Honey“ von Markus Imhoof, der das Thema in den Fokus unserer Wahrnehmung katapultierte.
Das verleiht Aufschwung und liess beispielsweise die anfangs noch kritisch eingestellten Landwirte später aus Überzeugung weitermachen. „Wenn es schön blüht und es summt, dann ist das auch ein Erlebnis, das sie plötzlich super finden.“, berichtet Ramseier zum Schluss des Interviews. Er hofft auf einen Schneeballeffekt, der bestenfalls auch auf die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung auf dem Land und in den Städten überschwappt. Wir alle können unseren Beitrag leisten und ein Nahrungsangebot für Insekten auf unserem Balkon oder im Garten bereitstellen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir etwas Natur in und rund um unsere vier Wände lassen, denn „englischer Rasen kompensiert mit Wildbienenhotel allein ist keine Lösung.“
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Magerwiese in Graubünden, Foto WIBLO 2020
Lassen wir uns auf ein Gedankenspiel ein: Es ist Sommeranfang 1995 und wir sitzen im alten Diesel auf dem Weg nach Italien. Gegen Sonnenuntergang halten wir an einer Tankstelle, um für die letzten Kilometer aufzutanken. Zurück im Wagen sind wir nun an der Stelle angekommen, an der die Geschichte heute anders erzählt werden würde als damals. Während wir heute einfach den Zündschlüssel im Schloss umdrehen und weiterfahren würden, hätten wir damals wahrscheinlich kaum durch die mit Fliegen und Mücken übersäte Windschutzscheibe hindurchschauen können.
Die Erinnerung trügt nicht
Diese Geschichte ist sehr prominent und hat viele Facetten. Vor allem aber ist sie nicht Teil einer verwaschenen Erinnerung, sondern traurigerweise wahr. Hans Ramseier hat sie schon unzählige Male in seinem Umfeld gehört. Er ist Professor für Pflanzenschutz und ökologischen Ausgleich an der Berner Fachhochschule in Zollikofen und arbeitet seit einigen Jahren an einem Forschungsprojekt, das dem Insektensterben entgegenwirken soll. Mehr als die eigenen Erfahrungen und Berichte von Landwirten besitzt er aber nicht; konkrete Zahlen gäbe es für die Schweiz keine.
Dass es ernst wird, ist allerdings gewiss. Weltweit wird ein erheblicher Rückgang von Insekten verzeichnet, und mit ihnen schwinden die Bodenfruchtbarkeit, die Nahrungsgrundlage anderer Arten und die natürliche Schädlingsabwehr. Es wird angenommen, dass rund 90 Prozent unserer Wildpflanzen auf Insekten als Bestäuber angewiesen sind. Knapp ein Zehntel der weltweiten landwirtschaftlichen Produktionsmenge ist abhängig von ihnen (Akademien der Wissenschaften Schweiz, 2019). Doch was führt hierzulande dazu, dass es immer weniger Insekten zu finden gibt?
„Die genauen Ursachen für das Insektensterben sind vielschichtig. Ein Kombinationseffekt aus Pestiziden, Trachtlücken und Krankheiten.“
Die genauen Ursachen sind laut Ramseier vielschichtig: „Aus meiner Sicht ist in der Schweiz der Pestizideinsatz nicht der einzige Faktor. Ich denke, ganz wesentlich ist auch die Trachtlücke (siehe Infobox) im Sommer, die dazu führt, dass einfach zu wenig Nahrung vorhanden ist. Dazu kommen Krankheiten und die Pflanzenschutzmittel. Häufig ist es dann ein Kombinationseffekt. Das heisst, wenn zu wenig Nahrung zur Verfügung steht, sind die Individuen sowieso geschwächt und eine zusätzliche Belastung durch Pflanzenschutzmittel macht die Auswirkungen noch gravierender. Die Insekten, wie z.B. die Wildbienen, überwintern folglich weniger gut. Wenn sie am Ende sehr weit fliegen müssen um zur Nahrungsquelle zu kommen, gibt es weniger Nachkommen. All das endet dann in einer Art Abwärtsspirale.“
INFOBOX: TRACHTLÜCKEN
Als Trachtlücke versteht sich der Zeitraum, in dem nur wenig Nahrung für Insekten bereitsteht. Sie ist durch die Ernte der landwirtschaftlichen Felder und Wiesen bedingt. Trachtlücken können zu verschiedenen Zeitpunkten im Jahr auftreten. Oft entstehen sie schon im Frühjahr ab Ende Mai und reichen bis in den Sommer hinein. Für den Zeitraum von Juli bis Ende September spricht man von Spätsommertrachtlücken.
Aufgrund des reduzierten Nahrungsangebots sind die Insekten geschwächt und anfälliger für Krankheiten und Schädlinge. In der Folge kann es sein, dass sie abwandern, oder geschwächt in die Wintersaison starten und sich weniger vermehren oder gar vorzeitig sterben.
Link zum Projekt
Von der Idee zum praxisnahen Forschungsprojekt
Zusammen mit einem ehemaligen Studenten, der unter anderem Landwirt und Bienenhalter ist, beschloss Ramseier 2011, sich die Schliessung jener Trachtlücke zur Aufgabe zu machen. Seither entwickeln sie Saatgutmischungen für Landwirte, die diese auf ihren Flächen auf sogenannten Blühstreifen aussähen. Die Mischungen sind attraktiv für Bienen und andere landwirtschaftliche Nützlinge und bieten eine dauerhaft blütenreiche Anlaufstelle in den nahrungsarmen Monaten. Die Aussaat der Mischungen und die Unterhaltung der Blühstreifen müssen aber auch insbesondere für die Landwirte ohne grossen Mehraufwand einhergehen.
„Raubwanzen werden als landwirtschaftliche Nützlinge bezeichnet, da sie der natürlichen Schädlingsbekämpfung dienen.“
Für ihr Vorhaben konnten sie zu Beginn gleich den Berner Bauernverband und den Schweizer Imkerverbund apisuisse, sowie später das Bundesamt für Landwirtschaft als Geldgeber überzeugen. Warum die Nähe zu den PraxispartnerInnen so wichtig ist? „Den Berner Bauernverband haben wir soweit in die Pflicht genommen, dass er das Projekt in seinen Reihen breit kommuniziert und uns Betriebe nennt, die mitmachen. Die Bienenleute haben wir vor allem ins Boot geholt, damit wir von vorne weg bei diesen Mischungszusammenstellungen auch ihre Meinung mitnehmen und von ihrem Fachwissen profitieren können. Und so haben wir eine kleine Arbeitsgruppe gebildet und sind dann relativ rasch gestartet.“
INFOBOX: 5 TIPPS WIE JEDER ETWAS DAGEGEN TUN KANN
– Säen. Blühende Pflanzen helfen Insekten
– Beim Mähen einige wilde Ecken und Winkel stehen lassen
– Auf Unkrautvernichtungsmittel verzichten
– Nachbarn sensibilisieren
– Wann immer möglich, Bio-Produkte kaufen
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Zwischenstand nach neun Jahren Projektlaufzeit
Das Projekt steht nach mittlerweile neun Jahren auf der Zielgeraden. Professor Ramseier ist soweit zufrieden; sein Team kann viel Positives vorweisen. Die Honig- und Wildbienen springen auf die Pflanzen der Blühstreifen an. Es wurde sogar nachgewiesen, dass die Bienen die Pollen aus den Mischungen in ihren Stock eintragen (Ramseier, 2018). Der erste Meilenstein dann 2015, als eine erprobte Mischung vom Bundesrat zugelassen und bewilligt wurde. Es konnte zusätzlich festgestellt werden, dass nebst den Bienen auch weitere Insekten von den Blühstreifen profitieren, so beispielsweise die Schwebfliegen und Raubwanzen. Sie werden als landwirtschaftliche Nützlinge bezeichnet, da sie der natürlichen Schädlingsbekämpfung dienen.
INFOBOX: ROTE LISTEN
Die „International Union For Conservation Nature’s Red List (IUCN Red List) of Threatened Species“ ist seit Jahrzehnten ein Indikator für die weltweit vom Aussterben bedrohten Tier-, Pflanzen, und Pilzarten. Die Roten Listen dienen als Grundlage für diverse Entscheidungen oder Forderungen von Nichtregierungsorganisationen. Neben jenen Listen existieren – teils davon abgeleitete – nationale Listen. Auch das Bundesamt für Umwelt der Schweiz veröffentlicht in regelmässigen Abständen Rote Listen zu verschiedenen Artengruppen.
Link zur IUCN
„Die Raubwanzen, als Gruppe ganz wichtige Nützlinge, haben uns insofern überrascht, als dass sie sehr viel stärker aufgetreten sind, als erwartet. Wir haben teilweise festgestellt, dass die Blühstreifen sehr wertvolle Ersatzhabitate sein können, wenn die Extensivwiesen gemäht werden. Das heisst: Gerade Raubwanzen halten sich sehr gerne in Extensivwiesen auf und wenn die ca. Mitte Juni gemäht werden, so wandern vor allem die Raubwanzen, aber auch andere Insekten in die Blühstreifen ab.“ Im Abgleich mit verschiedenen Listen tauchten auch immer wieder gefährdete Arten auf und solche, die auf der Roten Liste vermerkt seien, so Ramseier.
Den Blühstreifen fehlt es an Attraktivität
Aber was sagt der Praxistest? „Eigentlich ist die gesamtschweizerische Fläche, die aktuell mit Blühstreifen angelegt wird, enttäuschend niedrig und beschränkt sich auf die Versuchsstandorte im Rahmen des Projekts. Die Mehrheit davon liegt im Kanton Bern, ganz klar bedingt durch unsere Forschung, denn wir haben recht häufig festgestellt, dass wenn die Landwirte bereit sind mitzumachen, diese schnell überzeugt sind und die Blühstreifen weiterführen. Aber insgesamt genügt die Entschädigung vonseiten des Bundes nicht. Das heisst, jeder Bauer, der im Moment Blühstreifen sät, legt Geld oben drauf. Wir haben höhere Direktzahlungsbeiträge gefordert. Diese wurden jedoch leider abgelehnt. Folglich bedeutet das: Es gibt 2500 Schweizer Franken pro Hektar, auf der Kostenseite kommen jedoch 600 Schweizer Franken Saatgut hinzu, weiter die Aussaat und die Pflege der Blühstreifen. Unter dem Strich ist es für viele Bauern weniger lukrativ als jede andere landwirtschaftliche Kultur“, so Ramseier.
„Wenn es schön blüht und es summt, dann ist das auch ein Erlebnis, das forschungsteilnehmenden Bauern gefällt. Mit dem Resultat, dass einige Bauern die Pflege der Blühstreifen freiwillig weiterführen.“
Damit die blühende Wiese sich im gleichen Masse für Landwirte wie auch für ihre Bewohner lohnt, ist die Forschungsgruppe weiter im Gespräch mit dem Bund. Nur dann bestehe die Chance, dass sich mehr Landwirte dem Projekt auch über die offizielle Laufzeit hinaus anschliessen und sich die Blühstreifen in der Praxis etablieren. Neben den marktreifen bestehenden einjährigen Mischungen soll eine weitere, mehrjährige Mischung vom Bund bewilligt werden. Die Chancen stehen gut, denn die bisherigen Resultate aus den Testläufen zeigen, dass vor allem spezialisierte Wildbienen, die nur bestimmte Pflanzenarten als Nahrungsquelle ansteuern, auf die mehrjährigen Mischungen ansprechen.
Englischer Rasen kompensiert mit Bienenhotels ist keine Lösung
Die Forschung macht also eindeutige Schritte hierzulande, aber ist die Problematik auch bei den SchweizerInnen angekommen? Ramseier vernimmt eine immer grössere Sensibilisierung und Offenheit gegenüber der Thematik. Dazu beigetragen haben unter anderem die erschreckenden Ergebnisse der ForscherInnengruppe der Krefeld-Studie aus Deutschland und der preisgekrönte Schweizer Dokumentarfilm „More than Honey“ von Markus Imhoof, der das Thema in den Fokus unserer Wahrnehmung katapultierte.
Das verleiht Aufschwung und liess beispielsweise die anfangs noch kritisch eingestellten Landwirte später aus Überzeugung weitermachen. „Wenn es schön blüht und es summt, dann ist das auch ein Erlebnis, das sie plötzlich super finden.“, berichtet Ramseier zum Schluss des Interviews. Er hofft auf einen Schneeballeffekt, der bestenfalls auch auf die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung auf dem Land und in den Städten überschwappt. Wir alle können unseren Beitrag leisten und ein Nahrungsangebot für Insekten auf unserem Balkon oder im Garten bereitstellen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir etwas Natur in und rund um unsere vier Wände lassen, denn „englischer Rasen kompensiert mit Wildbienenhotel allein ist keine Lösung.“
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Autorin

Rebecca Geyer
Illustratorin

Luisa Morell
Experte Berner Fachhochschule

Hans Ramseier
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"Stern von Laufenburg" - Drohen der Schweiz Blackouts?
Allgemein
Strom gehört zu den Selbstverständlichkeiten, die wir in unseren Alltag gar nicht erst einplanen. Er fliesst uns ohnehin zu und die Welt hinter der Steckdose ist weit weg. Tatsächlich täuscht die Idylle: Ob in der Schweiz ausreichend Strom vorhanden ist, hängt vom Austausch mit den Nachbarn ab. Doch die umstrittenen Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU belasten auch die Energiefrage. Gibt es keine neuen Vereinbarungen, droht die Schweiz vom europäischen Energiemarkt abzudriften. Die Versorgungssicherheit und die Ziele für einen tieferen CO2-Ausstoss wären gefährdet.
Yves Ballinari | 15.07.2020
Bild von Fré Sonneveld auf Unsplash
In der Vorstellung ist das Leben auf einer einsamen Insel mit malerischen Bildern verbunden. Wenn man auf einer lebt, stellen sich dagegen alltägliche Fragen. Woher der Strom kommt, zum Beispiel. In der Realität gibt es keine Insel, die nicht auf die Energieversorgung durch Nachbarn angewiesen ist. Das gilt besonders für die Schweiz. Lange bevor sie sich mit der EU über den freien Personenverkehr einigte, hatten beide den Fluss von Strom über die Grenzen hinweg geregelt. Mit der Schaltanlage, dem „Stern von Laufenburg“, auf der Schweizer Seite des Rheins war es vor 62 Jahren erstmals möglich, die Stromnetze von drei Ländern – der Schweiz, Deutschland und Frankreich – zusammenzuschalten. Das waren die Ursprünge des europäischen Verbunds. Inzwischen ist er der weltweit grösste seiner Art: Mehr als 500 Millionen Menschen in 30 Ländern beziehen darüber ihren Strom.
„Mit der Schaltanlage „Stern von Laufenburg“ war es vor 62 Jahren erstmals möglich, die Stromnetze von drei Ländern – CH, DE und FR– zusammenzuschalten.“
Geben und Nehmen halten das System in der Balance und die Schweiz spielt dabei eine zentrale Rolle. Mit 41 grenzüberschreitenden Leitungen ist sie mit am besten ins europäische Stromsystem integriert. Signifikante Stromflüsse durchqueren unser Land. Die Regeln für diese internationalen Flüsse sowie Handel werden in EU-Gremien definiert. Auch das EU-Nichtmitglied Schweiz ist in einigen dieser Gremien vertreten. Obwohl formell nur als Gast, kann sie dort doch ihre Interessen vertreten und auf Gestaltung und Regeln des europäischen Strommarktes Einfluss nehmen. Ob das so bleiben wird, ist jedoch unklar.
Infobox: Ungeplante Stromflüsse
Ungeplante Stromflüsse durch das Schweizer Stromnetz entstehen z.B. dann, wenn zwei Nachbarstaaten einen Stromhandel vollziehen und dieser durch die Schweiz als Transitland unangemeldet stattfindet. Dies kann zu lokalen Überbelastungen des Schweizer Stromnetzes führen. Das Phänomen der ungeplanten Stromflüsse tritt vor allem in der Schweiz auf, da sie in Berechnungen zum Stromhandel zwischen EU-Ländern aufgrund ihres Status (weder EU-Mitglied noch Stromabkommen mit der EU) derzeit nicht berücksichtigt wird, der Strom sich aber den Weg des geringsten Widerstand sucht (und dieser führt bei Flüssen zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich oftmals direkt durch die Schweiz).
Infobox: Loop Flows
Elektrischer Strom nimmt den Weg des geringsten Widerstands. Wenn Strom an einem Ort erzeugt wird, um einen Verbraucher an einem anderen Ort zu versorgen, sollte er hauptsächlich über die direktesten Stromleitungen zwischen den beiden Orten fliessen. Ist der Weg jedoch „verstopft“ (z.B. wegen unzureichender Netzinfrastruktur), nimmt er einen Umweg durch andere Teile des Netzes – und umgeht so die Blockade. Dies kann dazu führen, dass der Strom an unerwarteten Stellen landet und sogar durch die Netze von Nachbarländern fliesst. Loop Flows sind somit pirmär ein technisches und/oder infrastrukturelles Problem (zu wenige Leitungen/Netzinfrastruktur), wohingegen unangemeldete Stromflüsse primär ein regulatorisches oder politisches Problem darstellen (zu wenig oder kein Informationsaustausch über Stromflüsse).
Die Beziehungen mit der EU in der Stromfrage sind gekoppelt an das ausstehende Rahmenabkommen. Solange sich beide Seiten nicht einigen können, ist auch die künftige Rolle der Schweiz im europäischen Verbund nicht geklärt. Welche Konsequenzen das mit sich bringt, haben Philipp Thaler und Kollegen von der Universität St. Gallen kürzlich anlässlich einer ergänzenden Studie zum Nationalen Forschungsprogramm 70 (Energiewende) beleuchtet.
Das Stromnetz stösst an seine Grenzen
„Anders als beispielsweise Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) wie Norwegen setzt die Schweiz die EU-Regeln für den Stromsektor nicht automatisch um. Dadurch resultieren regulatorische Unterschiede zwischen beiden, die immer mehr zu einem Problem geworden sind“, sagt Thaler. „Nach heutigem Stand funktionieren die Beziehungen der Schweiz und der EU auf dem Energiemarkt nach Absprachen im beidseitigen Einvernehmen. Einen festen Rahmen dafür mit genauen Abläufen und Zuständigkeiten gibt es aber nicht.“
„Immer mehr unangemeldete Stromflüsse durchfliessen die Schweiz, beispielsweise, wenn Deutschland Elektrizität mit Italien handelt.“
Die Folgen sind dramatisch. Immer mehr unangemeldete Stromflüsse durchfliessen die Schweiz, beispielsweise, wenn Deutschland Elektrizität mit Italien handelt. Dabei kommt der Schweizer Übertragungsnetzbetreiber Swissgrid bei seiner Kernaufgabe, die Netzstabilität zu gewährleisten, immer öfter an seine Grenzen. Werden diese Grenzen überschritten, drohen sogenannte «Blackouts». In einem ähnlich gelagerten Fall wäre es vor knapp einem Jahr in der Schweiz beinahe zu einem solchen Netzausfall im ganzen Land gekommen. Der Grund dafür war eine Kettenreaktion im Austausch mit Deutschland: An jenem 20. Mai floss ein beträchtlicher Teil der Schweizer Stromproduktion in das Nachbarland, da dort eine akute Knappheit an Elektrizität herrschte. Nachdem die Schweiz ausgeholfen hatte, drohte ihr selbst das Licht auszugehen.
Infobox: Energiestrategie 2050 und Stromversorgungssicherheit
Am 21. Mai 2017 haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das revidierte Energiegesetz angenommen. Es dient dazu, den Energieverbrauch zu senken, die Energieeffizienz zu erhöhen und die erneuerbaren Energien zu fördern. Zudem wird der Bau neuer Kernkraftwerke verboten. Die Schweiz kann so die Abhängigkeit von importierten fossilen Energien reduzieren und die einheimischen erneuerbaren Energien stärken. Das schafft Arbeitsplätze und Investitionen in der Schweiz. (Quelle: UVEK)
Link Energiestrategie 2050
Bezüglich der schweizeigenen Stromversorgungssicherheit geht der Bundesrat davon aus, dass unabhängig vom Abschluss eines Stromabkommens mit der EU die eigene Schweizer Stromversorgung im Notfall bis ins Jahr 2030 gewährleistet sein sollte.
Link NR Interpellation Stromversogrungssicherheit
Swissgrid forderte damals, die Schweiz wieder stärker in die Berechnungen der Nachbarländer zu grenzüberschreitenden Stromflüssen einzubeziehen. In der Folge hat sich die Ausgangslage aber nicht entspannt. „Situationen, in denen die Netzstabilität bedroht ist, werden sich nicht nur wiederholen, sondern vor allem auch verschärfen“, sagt Thaler. Der EU-Strommarkt wachse immer mehr zusammen und auch der Stromhandel zwischen seinen Mitgliedern nehme zu. Die Schweiz dagegen stehe zunehmend abseits und werde auch mehr und mehr vom Handel mit der EU ausgeschlossen.
Zusammenarbeit erleichtert den Atomausstieg
Das erwähnte Stromabkommen könnte die Probleme lösen, doch rechnen darf man damit mit Blick auf die bisherigen Verhandlungen nicht. Seit 2007 versuchen die Schweiz und die EU vergeblich, sich in der Frage einig zu werden. „Heute scheitert der Abschluss des Stromabkommens vor allem daran, dass die EU es abhängig macht vom Rahmenabkommen“, so Thaler. „Dieses ist bei den Schweizer Wählern aber sehr umstritten. Deshalb ist es blockiert und der Abschluss eines Elektrizitätsabkommens unwahrscheinlich.“
Infobox: Die Schweiz im EU-Stromnetz
Die Stromnetze der Schweiz und der EU-Länder sind eng miteinander verknüpft. Mit 41 grenzüberschreitenden Leitungen zu ihren Nachbarn zählt die Schweiz zu den am stärksten vernetzten Gegenden des europäischen Stromverbundes. Im Jahr 2018 importierte sie 30,4 TWh Strom aus Österreich, Frankreich, Deutschland und Italien und exportierte 31,8 TWh in diese Länder. Im gleichen Zeitraum betrug die Schweizer Stromproduktion insgesamt 63,6 TWh. Der relativ hohe Anteil der grenzüberschreitenden Stromflüsse sichert nicht nur die Stromversorgung der Schweiz, sondern unterstreicht auch ihre Bedeutung als Transitland für Elektrizitätsflüsse. Folglich hängen auch die Sicherheit der Elektrizitätsversorgung in der EU und das Funktionieren des Elektrizitätsbinnenmarktes in erheblichem Masse von der Transitrolle der Schweiz ab (Quelle: Swissgrid).
Ein Beitrag des SRF zeigt jedoch auch die Problematik, in welcher sich das Europäische Stromnetz befindet:
Link „Unsicheres Europäisches Stromnetz – SRF Schweiz“
Eine Zusammenarbeit, die auf gemeinsamen Regeln beruht, in festen Gremien stattfindet und regen Stromhandel ermöglicht, wäre dringend nötig. Sie würde vor allem auch den Ausstieg aus der Atomenergie erleichtern, indem die Schweiz besser planen kann, wie sie die fehlende Energie aus den AKW im Austausch mit ihren Nachbarn ersetzt. Ausserdem könnte die Schweiz Strom der hierzulande unbeliebten Windkraftanlagen importieren und sich zum Beispiel auf den heimischen Ausbau der Solarenergie konzentrieren.
„Das Stromabkommen würde Rechtssicherheit schaffen bei den Handelsbedingungen mit der EU. Das würde den grenzüberschreitenden Handel erleichtern, und dabei helfen, die Ziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen, was wiederum den beteiligten Unternehmen zugutekäme“, sagt Thaler. Nicht zuletzt würde die Schweiz wieder mitreden, wenn es um die Gestaltung des europäischen Energienetzes geht. Geht die Schweiz auf der anderen Seite ohne Stromabkommen mit der EU in die Zukunft, kann das zu höheren Kosten bei der hiesigen Energiewende führen.
Infobox: Politisch umstritten
Das Stromabkommen oder Rahmenabkommen mit der EU gilt auch als Voraussetzung für die geplante Öffnung des Strommarktes. Diese Liberalisierung des Schweizer Strommarktes ist jedoch politisch nicht unumstritten. Allen voran die FDP sowie Economiesuisse sind starke Befürworter. Etwas kritischer sehen dies z.B. die SP oder die Schweizer Energiestiftung SES. Für weiterführende Informationen für unsere LeserInnen seien hier noch zwei Links angegeben:
Link UVEK „Öffnung CH-Strommarkt“
Link Energiestiftung „Strommarktliberalisierung“
Hoffnungsschimmer «Green Deal»
Aussicht auf ein Stromabkommen ohne Rahmenabkommen besteht laut Thaler eher nicht. „Der Umgang mit dem Vereinigten Königreich im Zuge der Brexit-Verhandlungen hat gezeigt, dass die EU eine harte Linie mit Drittstaaten fährt und „Rosinenpickerei“ bei Abkommen auf jeden Fall vermeiden will.“ Mit der neuen Besetzung der EU-Kommission sieht er dennoch einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass eine Einigung auch in anderer Form gelingt: Unter dem Vorsitz von Ursula von der Leyen hat die EU jüngst einen «Green Deal» beschlossen, bei dem die Koppelung der Energiesysteme eine wichtige Rolle spielt.
Die Schweiz ihrerseits verfügt mit der Wasserkraft und den Stauseen über viel Potenzial, um Energie zu speichern. Auf der anderen Seite herrscht zum Beispiel in Deutschland ein Speicherbedarf, weil vor allem Solarenergie im Sommer anfällt, aber erst im Winter gebraucht würde. „Wenn sich Länder so ergänzen, könnte das die Energiewende also für alle Beteiligten erleichtern“, sagt Thaler. Synergieeffekte beim Erreichen des gemeinsamen Zieles, den CO2-Ausstoss zu senken, könnten also ein neues Argument liefern, gemeinsam nach Alternativen zum Stromabkommen zu suchen.
Infobox: NFP „Energie“
Die Nationalen Forschungsprogramme «Energie» umfassen 107 Forschungsprojekte: 15 Verbundprojekte mit insgesamt 62 Subprojekten und 7 Einzelprojekte für das NFP 70, 19 Einzelprojekte für das NFP 71 sowie vier Ergänzungsstudien, die mit praxisrelevanten Ergebnissen thematische Lücken in den beiden NFP schliessen. Quelle und weitere Informationen:
Link NFP „Energie“
„Eigentlich wollen beide dasselbe“
Die Schaltanlage in Laufenburg markierte den Beginn der europäischen Zusammenarbeit, damit Strom je nach Bedarf und Verfügbarkeit in die Haushalte und Betriebe gelangen kann. Nun müssen die Schweiz und die EU eine Lösung finden, damit die Anlage nicht zum Mahnmal für gescheiterte Zusammenarbeit wird. „Das wäre absurd angesichts der Tatsache, dass eigentlich beide dasselbe wollen“, sagt Thaler.
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Autor

Yves Ballinari
Experte Uni St. Gallen

Philipp Thaler
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Dr. Internet – Fluch oder Segen?
Allgemein
Das Internet wird sehr oft als Informationsquelle für gesundheitliche Fragen genutzt. Trotzdem ist die Unsicherheit bei den NutzerInnen noch immer gross. Können wir aus dem Internet bezüglich Gesundheitsinformationen wirklich einen Mehrwert ziehen oder sollten wir doch auf die innere Stimme hören, die uns davon abrät im Internet zu stöbern? Der Experte Dr. Nicola Diviani forscht an der Universität Luzern und am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) Nottwil über digitale Gesundheitsinformationen. Er gibt basierend auf seinen bisherigen Forschungsergebnissen einige Ratschläge.
Selin Scherrer | 21.06.2020
Grafik von Ryzhi auf iStock
Kennen Sie das? Sie haben seit zwei Tagen Bauchschmerzen, fühlen sich total müde und erschöpft, können aber noch zur Arbeit gehen. Sie wollen wissen, an was sie leiden und was sie dagegen unternehmen können. Natürlich rennen Sie nicht gleich zum Arzt, sondern fragen zuerst Google nach Rat. Wir alle kennen Situationen wie diese. Sobald es irgendwo zwickt und zieht, suchen wir auf Google nach Informationen dazu. Die beste Freundin ist niedergeschlagen, weil ihre Krebstherapie nicht anschlägt – also durchforsten wir das Internet nach Alternativen. So geht es den meisten SchweizerInnen. 76% aller Schweizer InternetnutzerInnen informieren sich online über Gesundheitsfragen [1]. Wie das Team um Dr. Nicola Diviani festgestellt hat, fällt es uns trotzdem noch immer schwer, dies auch gegenüber unseren ärztlichen Vertrauenspersonen offen darzulegen [2].
Unwahrheiten und Halbwissen
Die Zweifel gegenüber Online-Recherchen sind nicht unberechtigt, sie bringen Risiken mit sich. Das grösste Problem ist wohl, dass jegliche Personen Aussagen ins Internet schreiben können, die dann allen InternetnutzInnen zugänglich sind. Dies heisst, dass ganz einfach Unwahrheiten und Halbwissen verbreitet werden können. Das heisst aber auch, dass sich Personen mit ganz unterschiedlicher Bildung und unterschiedlichem Vorwissen ‚austauschen‘, was zu Unsicherheiten und Missverständnissen führen kann. Nicht zuletzt ist jeder Körper individuell und zwei Personen reagieren auf die gleiche Behandlung nicht unbedingt gleich.
Wie können wir also das Internet richtig einsetzen, damit wir uns trotzdem noch von zu Hause aus über Gesundheitsfragen informieren können?
„Wenn wir den ärztlichen Ratschlag ignorieren und blindlings eine andere online gefundene Methode anwenden, kann das zu Problemen führen.“
Offenheit gegenüber Onlinerecherchen
Dr. Nicola Diviani glaubt an das Potential des Internets. Er warnt aber, dass wir dieses zurzeit noch nicht ausschöpfen. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung sei, dass ÄrztInnen dem Thema gegenüber offener werden. Fast alle SchweizerInnen nutzen das Internet, um sich bezüglich Gesundheitsfragen zu informieren. Würden wir aufhören diese Recherchen zu leugnen, könnten wir die Arztkonsultationen dazu nutzen, um die gefundenen Informationen mit einer Expertin oder einem Experten zu diskutieren. Wichtig wird dies vor allem, wenn es nicht mehr nur um das Informieren, sondern um spezifisches Handeln geht. Wenn wir den ärztlichen Ratschlag ignorieren und blindlings eine andere online gefundene Methode anwenden, kann das zu Problemen führen. Wie schon erwähnt, sind unsere Körper sehr individuell und können somit auch unterschiedlich auf die gleiche Behandlung reagieren. Unsere HausärztInnen kennen unseren Körper und unsere Krankheitsgeschichte, und können die gefundenen Informationen in den individuellen Kontext bringen.
Bessere Qualität
Die Offenheit gegenüber dem Internet als medizinisches Informationsmedium könnte dazu beitragen, die Qualität zu verbessern. Somit könnten alle InternetnutzerInnen vertrauenswürdige und verständliche Informationen finden. Schliesslich könnte so das Gesundheitssystem entlastet werden, indem überflüssige Arztbesuche verhindert und das Verständnis der PatientInnen gefördert würden. Damit dies erreicht werden kann, müssen alle zusammenarbeiten und beginnen, das Internet als wichtige Ressource zu betrachten.
Zwei wichtige Verbesserungspunkte
Zusätzlich zur Offenheit der medizinischen Fachpersonen gegenüber Onlinerecherchen sieht Dr. Nicola Diviani vor allem zwei Hauptverbesserungspunkte im Umgang mit dem Internet.
Zum einen sollten wir uns über offizielle Quellen informieren. Bezüglich der momentanen Covid-19-Pandemie könnte man sich zum Beispiel beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) schlau machen. Dieses hält sich an die offiziellen Richtlinien der WHO und liefert spezifisch alle wichtigen Informationen und geltenden Bestimmungen für die Schweiz.
„Das Internet ist eine grosse Chance für das Gesundheitssystem – lasst uns diese Möglichkeit nicht entgehen.“
Offizielle Webseite von Fachpersonen
In der Schweizer Internetlandschaft vermisst Diviani aber einen wichtigen offiziellen Beitrag, der SchweizerInnen bezüglich alltäglichen Gesundheitsfragen aufklärt. Er hat für einige Zeit in den Niederlanden geforscht und gelebt. Dort gebe es zum Beispiel eine Internetseite, die von medizinischem Fachpersonal geführt werde. Diese Seite stellt kontrollierte und vertrauenswürdige Informationen für die Bevölkerung zur Verfügung. Somit können die Personen genau angeleitet und unnötige Arztbesuche verhindert werden. Eine Webseite wie diese wünscht sich Diviani auch für die Schweiz. Das Fehlen einer solchen Quelle mache es umso wichtiger, dass man offen mit seiner Ärztin oder seinem Arzt über Zweifel spreche.
Zudem müssten wir InternetnutzerInnen unbedingt geschult werden, wie wir vertrauenswürdige von weniger vertrauenswürdigen Internetseiten unterscheiden können. Diviani spricht hier neben dem Ärztepersonal vor allem die GrundschullehrerInnen an. Die Kinder sollten ganz allgemein bezüglich Strategien aufgeklärt werden, im Internet vertrauenswürdige Informationen zu finden.
Vier Empfehlungen zum Umgang mit Dr. Internet
Als grundlegendes Hilfsmittel, um vertrauenswürdige Internetseiten zu finden, können diese vier Empfehlungen eingesetzt werden. Diviani und sein Team haben gezeigt, dass diese Empfehlungen die Bewertung der Glaubwürdigkeit durch uns NutzerInnen positiv unterstützen [3].
Infobox
TIPP 1: Zertifizierung ist der Schlüssel! Einige Institutionen stellen ein Qualitätslabel für Webseiten guter Qualität zur Verfügung. Falls die Webseite keine Zertifizierung enthält, ist dies wohl eine Gesundheitswebseite von schlechter Qualität.
TIPP 2: Suche immer nach den AutorInnen! Gute Gesundheitswebseiten sind normalerweise von identifizierbaren GesundheitsexpertInnen oder Institutionen geschrieben und enthalten Referenzen zu medizinischen Publikationen.
TIPP 3: Vorsicht vor versteckter Werbung! Werbung ist nicht unbedingt schlecht. Sind Werbung und Webseiteninhalte aber nicht klar trennbar, handelt es sich wohl um eine schlechte Gesundheitswebseite.
TIPP 4: Text ist nicht genug! Gute Gesundheitswebseiten erklären meistens schwierige Begriffe und Konzepte auch mit Hilfe von Bildern, Grafiken oder Videos.
Ein Beispiel einer Zertifizierung für Gesundheitswebseiten ist der HONCode. Nach einem Klick auf das Label, welches in der Fusszeile der Webseite zu sehen ist, wird das Zertifikat dieser Seite angezeigt. Wie das Label aussieht und weitere Informationen dazu finden Sie hier.
Die Internetsuche nach Gesundheitsinformationen birgt Risiken. Wir können uns aber mit einem bewussten und vorsichtigen Umgang davor schützen. Das Internet ist eine grosse Chance für das Gesundheitssystem – lasst uns diese Möglichkeit nicht entgehen. Starten wir doch damit, indem wir offener über unsere Internetrecherchen sprechen und bewusster mithilfe der vier Kriterien von Diviani und seinem Team [3] nach vertrauenswürdigen Informationen suchen.
- Latzer, M., M. Büchi, and N. Festic, Internetanwendungen und deren Nutzung in der Schweiz 2019. Themenbericht aus dem World Internet Project – Switzerland 2019. 2019.
- Diviani, N., et al., Where else would I look for it? A five-country qualitative study on purposes, strategies, and consequences of online health information seeking. J Public Health Res, 2019. 8(1): p. 1518.
- Diviani, N. and C.S. Meppelink, The impact of recommendations and warnings on the quality evaluation of health websites: An online experiment. Computers in Human Behavior, 2017. 71: p. 122-129.
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Autorin

Selin Scherrer
Experte

Nicola Diviani
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Salutogenese: Die Gesundheitsentstehung
Allgemein
Warum werden manche Menschen unter Einfluss von ausserordentlichem Stress krank, andere bleiben gesund? Es ist ein äusserst faszinierendes und allgegenwärtiges Thema: Die Entstehung von Gesundheit. Denn woher kommt eigentlich Gesundheit und kann man die sogenannte Salutogenese gar positiv beeinflussen? Diverse Studien mit Hebammen zeigen: Ja, sie können!
Mira Humble | 06.06.2020
Foto von Emiel Molenaar auf Unsplash
Stunden sind vergangen seit die Wehen eingesetzt haben. Stunden verbringen die werdende Mutter und ihre Geburtsbegleiterin zusammen. Dann endlich, eine letzte Wehe, eine letzte Anstrengung und dann ist es da, das Kind. Und schreit. Ein wortwörtlich einschneidendes Erlebnis und eines, das die Spezialisten an der Seite der Gebärenden positiv beeinflussen können. Dies belegen Forschungsergebnisse der Schweizer Expertin Prof. Claudia Meier Magistretti von der Hochschule Luzern.
Der Kohärenzsinn oder was macht überhaupt Sinn?
«Es ist unsere Aufgabe, die Kraft der Frau zu mobilisieren und sie in Kontakt zu bringen mit ihrer elementaren Kraft, zu gebären, ihr mitzugeben, dass sie dieser Kraft vertrauen kann … und dass Geburt sogar einen tieferen Sinn haben kann.» (Meier Magistretti 2019, S. 123). In nur einem Satz hat Hebamme Endres [1] mehrere Dimensionen des sogenannten «Sense of Coherence» erwähnt und somit gezeigt, dass sie nach den Prinzipien der Salutogenese handelt. Der Sense of Coherence – zu Deutsch Kohärenzsinn und im Folgenden als SOC bezeichnet– setzt sich zusammen aus den drei Faktoren: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit.
„Die Salutogenese ergänzt und bildet einen Gegenpol zur Lehre der Pathogenese, welche sich mit der Entstehung von Krankheit beschäftigt.“
In diesem Kontext kann Verstehbarkeit definiert sein als Wissen um den Prozess der Geburt und somit einer höheren Gewissheit, was einen erwarten wird. Handhabbarkeit bedeutet zum Beispiel, Ressourcen zu besitzen, um sich der Herausforderung der Geburt zu stellen. In diesem Fall ist die Ressource die elementare Kraft, welche der Mutter innewohnt. Die Geburt als sinnvoll oder sogar mit einem tieferen Sinn zu verstehen, deckt den Faktor der Bedeutsamkeit ab.
Unterschiedliche Stressresistenz
Die variierende Stärke des SOC bei verschiedenen Menschen erklärt, warum diese unterschiedlich auf Stress und einschneidende Lebensereignisse reagieren. Lange Zeit wurde vermutet, dass der SOC nicht aktiv von aussen beeinflusst werden kann und ab dem 30. Lebensjahr konstant bleibt. Die Forschung von Prof. Meier Magistretti zeigt nun jedoch ein anderes Bild.
Optimale Forschungsbedingungen im «Kreisssaal»
Das Thema Geburt und Schwangerschaftsbegleitung bietet sich sehr gut für die Erforschung der Salutogenese an, da es zuvor bereits bekannt war, dass positive Geburtserlebnisse den SOC stärken können. «Auch Nachbarschaftshilfe oder Psychotherapie können den SOC stärken», erklärt die Expertin. Schwerpunkt ihrer Forschung ist der «Sense FOR Coherence» – zu Deutsch Sinn für Kohärenz –, also die Fähigkeit, den SOC anderer positiv zu beeinflussen.
Infobox: Auf den Spuren der Salutogenese
Das Konzept der Salutogenese wurde in den 1970er-Jahren von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky eingeführt. Antonovsky führte eine Studie an Frauen in der Menopause durch. Er verglich dabei zwei Gruppen von Frauen: Die eine Gruppe hatte im Laufe ihres Lebens extremen Stress erlebt und einige darunter hatten sogar den Holocaust überlebt. Die Frauen der Kontrollgruppe hatten ein «normales» Leben geführt. Beim Vergleich der beiden Gruppen fiel auf, dass 29 Prozent der Frauen, welche im Leben extremen Stress erfahren mussten, sich aller Widrigkeiten zum Trotz in einem guten psychischen Zustand befanden. Der Soziologe war fasziniert von diesem Sachverhalt. Aus der Fragestellung, wie Gesundheit entsteht und erhalten bleibt, entwickelte er das Konzept der Salutogenese. Sie ergänzt und bildet einen Gegenpol zur Lehre der Pathogenese, welche sich mit der Entstehung von Krankheit beschäftigt.
Es wird vermutet, dass das «Setting», also die Arbeitsumgebung, einen Einfluss auf die Beratungsform von Hebammen hat. So verhalten sich Hebammen oder Ärzte im Krankenhaus mehrheitlich, aber nicht ausschliesslich, anders als Hebammen im Geburtshaus oder bei einer Hausgeburt.
Im Fokus: Risiken und Angst
Prof. Meier Magistrettis Forschung hat ergeben, dass sich Fachkräfte im klinischen Kontext meist hauptsächlich auf die Dimension der Verstehbarkeit konzentrieren. «Dann muss ich sagen, mache ich mir da gar keine Sorgen um Sie. Das ist halt wie bei jeder Schwangeren, es ist eine Momentaufnahme, wie immer im Leben» (Meier Magistretti 2019, S. 127), sagt Frauenärztin Freivogel [1] zu ihrer Patientin. Die Fachpersonen konzentrieren sich auf mögliche Risiken und Angstreduktion. Die wichtigen Aspekte der Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit fehlen meist komplett.
Auf Kosten der Gesundheit der Spezialisten
Dabei gibt es einige Ausnahmen. Manche Ärzte und Ärztinnen wenden eine Mischform der klinischen und der salutogenen Behandlung an. Diesen Fachpersonen geht es aber oft psychisch schlechter. Wahrscheinlich, weil sie sich zusätzlich zur besser bezahlten medizinischen Untersuchung psychologische Arbeit aufladen. Das kann dann zu Stress führen.
Dabei haben Studien ergeben, dass Geburten im Krankenhaus, im Geburtshaus oder Hausgeburten gleich sicher für Mutter und Kind sind. Vorausgesetzt, es handelt sich um eine Schwangerschaft ohne Risikofaktoren. Bleibt nur noch, dass Mütter bei Komplikationen im Notfall kurzfristig ins Krankenhaus gefahren werden müssen. Dies kann, bei einer schlechten Begleitung dieser Frauen, einen gefühlten Kontrollverlust bedeuten.
Entweder, oder?
Wäre es nicht das Ideal, beide Welten zusammen zu führen? «Das wird die Zukunft sein», sagt Prof. Meier Magistretti. «Nach einer positiv erlebten Geburt kommt es zu weniger postpartalen Depressionen. Nicht evidenzbasierte Behandlungsmethoden, die als Standardprozedur durchgeführt werden und oft mehr verunsichern als helfen, fallen dann idealerweise weg.» Ansätze hierfür sind salutogene Spitäler und die Initiativen «too much medicine» in Grossbritannien oder «avoiding avoidable care» in den USA.
Der nationale Kohärenzsinn
Übrigens spielt Salutogenese auch in Zeiten vom neuen Coronavirus eine wichtige Rolle und beeinflusst, wie gut wir mit Einschränkungen wie dem «social distancing» umgehen können. Gemeinsam mit der «Global Working Group of Salutogenesis» hat die Professorin herausgefunden, dass nicht nur der individuelle SOC massgebend ist, sondern auch der sogenannte «Sense of National Coherence», also der SOC bezogen auf eine ganze Nation. Dieser wird zum Beispiel durch das Vertrauen in die jeweilige Regierung geprägt. Wenn wir verstehen, warum wir keine Partys mehr geben dürfen und warum das Home-Office für alle derzeit am sichersten ist, dann trägt das zu einer besseren psychischen Befindlichkeit bei.
Auch auf andere Weise wird der SOC gestärkt: Es ist jetzt wieder salonfähig, über Belastung zu reden. Mithilfe von Briefaktionen oder Nachbarschaftshilfe schaffen sich die Menschen ihr eigenes Supportsystem und verbessern somit die Aspekte der Bedeutsamkeit und Handhabbarkeit. Wer weiss, vielleicht gehen wir sogar gestärkt und mit einem höheren SOC aus der Coronakrise hervor – ganz analog zum Erlebnis der positiven Geburt.
[1] Namen geändert
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Mira Humble
Expertin HSLU

Claudia Meier Magistretti
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Wie viel Plastik schwimmt im Genfersee?
Allgemein
Plastikabfälle sind inzwischen ein Bestandteil fast aller Gewässer. Doch woher wissen wir überhaupt, wie viel es ist und was zieht deren Existenz für Konsequenzen nach sich? Um Forschung zu betreiben und fundierte Aussagen machen zu können, braucht es Daten. Zwei Genfer Wissenschaftler der Organisation Oceaneye haben sich diesem Thema nun angenommen.
Jael Bieri und Luisa Morell | 16.04.2020
In unseren Weltmeeren und Binnengewässern befinden sich Plastikabfälle – so viel ist bekannt. Wie viel Plastik das genau ist, ist momentan jedoch noch äusserst schwierig zu sagen. Pascal Hagman, Leiter der Genfer Organisation Oceaneye und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Gaël Potter haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Datenlage zu verbessern: «Zur Zeit unserer Gründung sprachen einige Journalisten von Müllwirbeln oder dem Plastikkontinent und solchen Dingen. Doch beim Blick in verschiedene Studien stellten wir fest, dass die Anzahl der Daten sehr limitiert ist, also haben wir die Forscher kontaktiert und eigentlich immer die gleiche Antwort erhalten: ‹Es besteht ein grosser Bedarf an Daten».
Oceaneye ist eine wissenschaftliche Organisation, die mit Seglern überall in der Welt Kontakt aufnimmt, um mehr über das Mikroplastik zu erfahren, das auf unseren Meeren treibt. Sie helfen den Freiwilligen, die Schiffe mit wissenschaftlichem Equipment auszustatten und lassen die Seefahrenden anschliessend auf ihren Routen Proben sammeln. Die Tests werden danach im Genfer Labor ausgewertet. Auf der Website von Oceaneye ist eine Weltkarte veröffentlicht, auf welcher der Verschmutzungsgrad der bereits untersuchten Gewässerzonen markiert ist.
Informieren ist essentiell
Die Information einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen gehört ebenfalls zum Konzept von Oceaneye. Auf ihrer Website betonen sie, dass die Weitergabe von Daten wichtig ist, um sich unter Wissenschaftlern auszutauschen und die Bevölkerung auf Problematiken hinzuweisen. Deshalb speisen sie ihre Erkenntnisse in die wissenschaftliche Datenbank GRID des Umweltprogramms der UNO ein, und betreiben verschiedene Projekte zur Sensibilisierung der Bevölkerung. Sie halten Vorträge an öffentliche Veranstaltungen, geben Unterricht in Schulen, führen eine Ausstellung über Kunststoffabfälle im Meer und stehen den Medien mit Fachwissen zur Verfügung.
Studie lanciert
Ab Anfang 2019 hat Oceaneye den Fokus auf ein lokales Gewässer umgeschwenkt und die Mengen von schwimmendem Mikroplastik im Genfersee untersucht. Pünktlich zur Badesaison wurde die Vorstudie veröffentlicht, bestehend aus vierzehn Proben verteilt über den See. Sie zeigt, dass im Genfersee 129 Gramm Mikroplastik pro Quadratkilometer an der Oberfläche treiben. Berücksichtigt wurden dabei Teilchen mit Durchmesser zwischen einem und fünf Millimeter. So schwimmen schätzungsweise 14 Millionen Plastikteile dieser Grösse auf dem See. Der Verschmutzungsgrad liegt damit unwesentlich unter dem Durchschnittswert der Weltmeere, welcher bei gerundeten 160 g/km² liegt.
Um die Studie zu vervollständigen, wurden im Herbst 2019 36 weitere Proben gesammelt, die zurzeit von Hagmann und seinem Kollegen ausgewertet und analysiert werden. Die Ergebnisse sollen demnächst veröffentlicht werden. Hagmann ist sich jedoch sicher, dass die Befunde die Resultate des letzten Sommers mit minimalen Abweichungen bestätigen werden. Vielmehr ging es darum, eine verlässliche Datenbasis zu schaffen, ausserdem kann die standörtliche Verteilung des Plastiks, bedingt durch Strömungen und Winde, stark schwanken. Mit ausreichend Datenmaterial können so Karten vom See erstellt werden.
Grosse Beachtung in der Öffentlichkeit
Bei den Medien ist die veröffentlichte Vorstudie auf viel Aufmerksamkeit gestossen. In der ganzen Schweiz haben verschiedene Zeitungen und Radio- wie TV-Sender darüber berichtet. Hagmann und Potter hatten den Zeitpunkt ihrer Verlautbarung extra in die Saison fallen lassen, in der sich die Leute viel im und um den See aufhalten und sich am meisten damit identifizieren können. Trotzdem sagt Hagmann: «Wir waren sehr überrascht von der Reaktion der Medien auf unsere Veröffentlichung». Plastik in Schweizer Gewässern ist eigentlich kein neues Thema. Andere Studien haben bereits kleinere Datensätze zu mehreren Seen gesammelt und das Bundesamt für Umwelt weist in Berichten seit mehreren Jahren auf Plastik in nationalen Gewässern und Böden hin.
Infobox: Kleine Plastikkunde
Unter Plastik oder Kunststoff versteht man verschiedene synthetische oder halbsynthetische Polymere, die, meist aus Erdöl, künstlich hergestellt werden. Kunststoffe haben eine sehr lange Zersetzungsdauer und können teilweise mehrere hundert Jahre in der Umwelt bestehen bleiben.
Plastik kann verschiedene Dichten haben. Unter den gebräuchlich verarbeiteten Plastiksorten weisen nur drei eine geringere Dichte als Wasser auf und können daher an der Wasseroberfläche gesammelt werden, nämlich:
Polypropylen (PP)
Polyethylen low density (PE – LD)
Polyethylen hight density (PE-HD)
Alle diese drei Kunststoff-Sorten werden gebräuchlicherweise zur Herstellung von Verpackungsmaterialen (starre Verpackungen, Folien, Kanister, Tuben u.ä.) genutzt. Andere Plastiksorten, wie z.B. PET oder synthetischer Kautschuk von Autoreifen haben eine grössere Dichte als Wasser und sinken.
Wo kommt der Kunststoff her?
«Viele Leute denken, das Meer sei verschmutzt, weil andere Länder nicht wissen wie sie mit ihrem Müll umgehen sollen», sagt Hagmann. Deshalb habe es viele Schweizer überrascht zu hören, dass die Verschmutzung des Genfersees im ähnlichen Grössenbereich wie die der Weltmeere liegt. Zwar funktioniere das Abfallmanagement in der Schweiz tatsächlich gut, für die entsprechenden Zahlen gibt es jedoch andere Gründe: Um den See lebt etwa eine Million Menschen auf eine Wasserfläche von 580 Quadratkilometern. Das entspricht einer sehr hohen Besiedlungsdichte. Ausserdem werden in der Schweiz pro Jahr und Kopf rund 100 Kilogramm Plastik erworben, womit wir zu den Verbraucherfreudigsten in Europa gehören. Der Anteil an Verpackungsmaterial, also typischem Einwegplastik, liegt dazu in der Schweiz mit 70 Prozent noch viel höher als in der EU, wo Verpackungen noch einen Anteil von 40 Prozent am konsumierten Kunststoff haben.
Weitere Studien in Planung
Die bisherige Studie konnte leider keinen Aufschluss darüber bringen, woher das gefundene Plastik im Genfersee genau stammt. Bei Mikroplastik handelt es sich oft um Bruchstücke grösserer Kunststoffwaren, die sich unter mechanischem Einfluss zerkleinert haben, weshalb sie schwer zu identifizieren sind. Zwar konnten Schnipsel von Folien und Schaumstoffen ausfindig gemacht werden, welche höchstwahrscheinlich zu Verpackungen gehörten, doch es bleibt schwer zu erkennen von welchen Produkten das Plastik genau stammt und woher es in den See gelangt.
Eine für 2020 geplante Studie soll darüber mehr Klarheit bringen: Am Ausfluss vom See in die Rhone wird neben Mikroplastik auch Meso- und Makroplastik gesammelt werden. Diese Plastikteile haben einen Durchmesser zwischen fünf Millimeter und 50 Zentimeter, dadurch werden ihr Ursprung oder sogar ganze Objekte weitaus öfter zu erkennen sein. Weiss man, welche Sorten von Plastik im See landen, kann man vielleicht auf seine Quellen schliessen und so gezieltere Massnahmen zur Verhinderung treffen.
Mehrfacher Einfluss auf die Umwelt
Schwimmender Plastik verharrt nicht im Seebecken, das Gewässersystem ist durch Flüsse verbunden und dadurch immer in Bewegung. Der Genfersee hat seinen Ausfluss in die Rhone, welche von dort aus ganz Frankreich von Nord nach Süd durchquert und schliesslich ins Mittelmeer mündet. Die Frage wieviel Plastik aus dem See von der Rhone mitgetragen wird, veranlasst Hagmann und Potter dazu, am Ausfluss des Sees zeitgleich eine zweite Studie durchzuführen: Es sollen auch hier Proben von Mikroplastik genommen werden. Über einen Zeitraum von zwölf Monaten wird gemessen, wieviel Milligramm pro Quadratmeter den See verlassen und so prädestiniert sind, in anderen Gewässern zu landen. Voruntersuchungen deuten auf ähnliche Grössenordnungen wie im Bereich des Sees hin (2.12 mg/m3).
„Rund 80 % des Kunststoffs im Genfersee stammt vom Abrieb von Autoreifen.“
Plastik in der Umwelt kann Schäden verursachen, welche im marinen Umfeld bereits weitreichend erforscht sind. Von Tieren geschlucktes Plastik kann beispielsweise zu sperrig sein, um wieder ausgeschieden zu werden und blockiert so die Mägen. Das kann dazu führen, dass unter anderem viele Vögel bei sozusagen «vollem» Magen verhungern. Mülltüten oder Plastikschnüre können Tiere strangulieren oder ersticken. Lebensräume können zerstört werden, weil am Grund lebende Pflanzen von Kunststoffablagerungen bedeckt werden und kein Licht mehr bekommen. Beim Ökosystem See sind die Auswirkungen bisher kaum untersucht, die Wissenschaftler rechnen jedoch mit vergleichbaren Effekten, da sich die beiden Lebensräume in entscheidenden Punkten ähneln.
Infobox: So werden dem See Proben entnommen
Zur Gewinnung von Mikroplastikproben verwenden die Forscher sogenannte Manta-Netze (Grafik, siehe unten), die bei langsamer Fahrgeschwindigkeit über einen bestimmten Zeitraum an der Seite des Bootes hergezogen werden. Ihren Namen haben die Netze dem breiten Metallmaul zu verdanken, welches die obersten fünfzehn Zentimeter der Wasseroberfläche durchstreift und so schwimmende Partikel im daran befestigten Netz sammelt. In diesem befindet sich nach einer solchen Aktion jede Menge organisches Treibgut, Plankton und einige Plastikstückchen.
Im Labor werden die Proben durch Siebe gespült und so gereinigt und nach Grösse aufgeteilt. Das Plastik wird aus dem organischen Material heraussortiert. Danach wir es gewogen und in übersichtliche Kategorien unterteilt, beispielsweise in Fasern, Folien, Schaumstoffe oder unzuordenbare Bruchstücke. So können die Forscher feststellen, wie viel Gramm Mikroplastik pro Quadratkilometer an der Oberfläche des untersuchten Gebiets treiben und wie die Zusammensetzung ist.
Schwimmendes Mikroplastik ist aber bei weitem nicht der einzige Rückstand von Kunststoffen, der in Gewässern zu finden ist. Auch am Ufer, am Grund und in den Organismen eines Gewässers sammelt sich Plastik an, und es gibt auch grössere schwimmende Plastikobjekte (Meso-, Makroplastik usw.). Die Untersuchung von schwimmendem Mikroplastik erweist sich jedoch als nützlicher Wert: Da die Messmethode relativ unkompliziert und kostengünstig ist, existieren bereits Daten aus vielen Gewässern, sodass mit dieser Einheit gut Vergleiche angestellt werden können – so werden die Zahlen erst aussagekräftig.
Gefahr für die ganze Nahrungskette
Die grösste Sorge gilt momentan den toxikologischen Folgen, welche mutmasslich von Plastik ausgehen. Kunststoffe enthalten teilweise Zusatzstoffe, zum Beispiel Brandverzögerer oder Weichmacher, die stark gesundheitsschädigend sind. Besonders in älterem Kunststoff, dessen Herstellung noch keinen strengen Auflagen unterlag, ist in unvorhersehbaren Mengen damit zu rechnen. Ein Faktor, der unbedingt in Betracht gezogen werden sollte, da sich das Plastik im Wasser seit Beginn nur akkumuliert und nicht abbaut. Im Labor der EPFL Lausanne wird momentan mit eigens entwickelten, künstlichen Mägen untersucht, ob sich solche Schadstoffe durch die aggressiven Verdauungssäfte aus dem Plastik lösen können. Zudem besitzt Kunststoff die Eigenschaft, im Wasser gelöste Chemikalien wie Pestizide etc. zu binden und so Giftstoffe an seiner Oberfläche zu konzentrieren. Beide Varianten können schwerwiegende Folgen nach sich ziehen: Wird das toxische Plastik von kleinen Lebewesen, wie zum Beispiel Plankton eingenommen, gelangen die Gifte in die gesamte Nahrungskette.
An der Oberfläche treibt nur die Spitze des Eisbergs
Plastik findet sich im See nicht nur an der Oberfläche, es ist auch an den Ufern, am Grund und in den Organismen zu finden, welche im und ums Gewässer leben. Eine Studie aus der Westschweiz (Boucher et al., 2019) schliesst aus mathematischen Vorhersagen, dass sich im Genfersee etwa 600 Tonnen Plastik befinden müssten. 83 Prozent davon stammen laut Hochrechnungen vom Abrieb von Autoreifen – kleinste Partikel, die durch ihre Dichte sinken und sich am Seegrund ablagern. Teilchen also, die bis jetzt nicht in die Studie von Oceaneye eingeflossen und auch sonst aus Gründen der Machbarkeit noch nie empirisch untersucht worden sind. Verpackungsmaterial macht dagegen nur einen errechneten Anteil von sechs Prozent aus und Textilwaren oder Rückstände aus der Bauindustrie gerade mal noch drei Prozent bzw. zwei Prozent. Weitere sieben Kategorien wie Kosmetik oder Landwirtschaft etc. teilen sich die restlichen sechs Prozent. Dass Oceaneye sich für die Untersuchung des Oberflächenplastiks entschieden hat, liegt wie gesagt an der recht einfachen Testbarkeit und der guten Vergleichbarkeit dieser Daten, bietet jedoch keinen totalen Blick aufs Ausmass der Verschmutzung. Bouchers Studie zeigt, dass noch mit weitaus grösseren Plastikmengen zu rechnen ist, als man es nach den Zahlen von Oceaneye erwarten könnte.
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In unseren Weltmeeren und Binnengewässern befinden sich Plastikabfälle – so viel ist bekannt. Wie viel Plastik das genau ist, ist momentan jedoch noch äusserst schwierig zu sagen. Pascal Hagman, Leiter der Genfer Organisation Oceaneye und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Gaël Potter haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Datenlage zu verbessern: «Zur Zeit unserer Gründung sprachen einige Journalisten von Müllwirbeln oder dem Plastikkontinent und solchen Dingen. Doch beim Blick in verschiedene Studien stellten wir fest, dass die Anzahl der Daten sehr limitiert ist, also haben wir die Forscher kontaktiert und eigentlich immer die gleiche Antwort erhalten: ‹Es besteht ein grosser Bedarf an Daten».
Oceaneye ist eine wissenschaftliche Organisation, die mit Seglern überall in der Welt Kontakt aufnimmt, um mehr über das Mikroplastik zu erfahren, das auf unseren Meeren treibt. Sie helfen den Freiwilligen, die Schiffe mit wissenschaftlichem Equipment auszustatten und lassen die Seefahrenden anschliessend auf ihren Routen Proben sammeln. Die Tests werden danach im Genfer Labor ausgewertet. Auf der Website von Oceaneye ist eine Weltkarte veröffentlicht, auf welcher der Verschmutzungsgrad der bereits untersuchten Gewässerzonen markiert ist.
Informieren ist essentiell
Die Information einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen gehört ebenfalls zum Konzept von Oceaneye. Auf ihrer Website betonen sie, dass die Weitergabe von Daten wichtig ist, um sich unter Wissenschaftlern auszutauschen und die Bevölkerung auf Problematiken hinzuweisen. Deshalb speisen sie ihre Erkenntnisse in die wissenschaftliche Datenbank GRID des Umweltprogramms der UNO ein, und betreiben verschiedene Projekte zur Sensibilisierung der Bevölkerung. Sie halten Vorträge an öffentliche Veranstaltungen, geben Unterricht in Schulen, führen eine Ausstellung über Kunststoffabfälle im Meer und stehen den Medien mit Fachwissen zur Verfügung.
Studie lanciert
Ab Anfang 2019 hat Oceaneye den Fokus auf ein lokales Gewässer umgeschwenkt und die Mengen von schwimmendem Mikroplastik im Genfersee untersucht. Pünktlich zur Badesaison wurde die Vorstudie veröffentlicht, bestehend aus vierzehn Proben verteilt über den See. Sie zeigt, dass im Genfersee 129 Gramm Mikroplastik pro Quadratkilometer an der Oberfläche treiben. Berücksichtigt wurden dabei Teilchen mit Durchmesser zwischen einem und fünf Millimeter. So schwimmen schätzungsweise 14 Millionen Plastikteile dieser Grösse auf dem See. Der Verschmutzungsgrad liegt damit unwesentlich unter dem Durchschnittswert der Weltmeere, welcher bei gerundeten 160 g/km² liegt.
Um die Studie zu vervollständigen, wurden im Herbst 2019 36 weitere Proben gesammelt, die zurzeit von Hagmann und seinem Kollegen ausgewertet und analysiert werden. Die Ergebnisse sollen demnächst veröffentlicht werden. Hagmann ist sich jedoch sicher, dass die Befunde die Resultate des letzten Sommers mit minimalen Abweichungen bestätigen werden. Vielmehr ging es darum, eine verlässliche Datenbasis zu schaffen, ausserdem kann die standörtliche Verteilung des Plastiks, bedingt durch Strömungen und Winde, stark schwanken. Mit ausreichend Datenmaterial können so Karten vom See erstellt werden.
Grosse Beachtung in der Öffentlichkeit
Bei den Medien ist die veröffentlichte Vorstudie auf viel Aufmerksamkeit gestossen. In der ganzen Schweiz haben verschiedene Zeitungen und Radio- wie TV-Sender darüber berichtet. Hagmann und Potter hatten den Zeitpunkt ihrer Verlautbarung extra in die Saison fallen lassen, in der sich die Leute viel im und um den See aufhalten und sich am meisten damit identifizieren können. Trotzdem sagt Hagmann: «Wir waren sehr überrascht von der Reaktion der Medien auf unsere Veröffentlichung». Plastik in Schweizer Gewässern ist eigentlich kein neues Thema. Andere Studien haben bereits kleinere Datensätze zu mehreren Seen gesammelt und das Bundesamt für Umwelt weist in Berichten seit mehreren Jahren auf Plastik in nationalen Gewässern und Böden hin.
Infobox: Kleine Plastikkunde
Unter Plastik oder Kunststoff versteht man verschiedene synthetische oder halbsynthetische Polymere, die, meist aus Erdöl, künstlich hergestellt werden. Kunststoffe haben eine sehr lange Zersetzungsdauer und können teilweise mehrere hundert Jahre in der Umwelt bestehen bleiben.
Plastik kann verschiedene Dichten haben. Unter den gebräuchlich verarbeiteten Plastiksorten weisen nur drei eine geringere Dichte als Wasser auf und können daher an der Wasseroberfläche gesammelt werden, nämlich:
Polypropylen (PP)
Polyethylen low density (PE – LD)
Polyethylen hight density (PE-HD)
Alle diese drei Kunststoff-Sorten werden gebräuchlicherweise zur Herstellung von Verpackungsmaterialen (starre Verpackungen, Folien, Kanister, Tuben u.ä.) genutzt. Andere Plastiksorten, wie z.B. PET oder synthetischer Kautschuk von Autoreifen haben eine grössere Dichte als Wasser und sinken.
Wo kommt der Kunststoff her?
«Viele Leute denken, das Meer sei verschmutzt, weil andere Länder nicht wissen wie sie mit ihrem Müll umgehen sollen», sagt Hagmann. Deshalb habe es viele Schweizer überrascht zu hören, dass die Verschmutzung des Genfersees im ähnlichen Grössenbereich wie die der Weltmeere liegt. Zwar funktioniere das Abfallmanagement in der Schweiz tatsächlich gut, für die entsprechenden Zahlen gibt es jedoch andere Gründe: Um den See lebt etwa eine Million Menschen auf eine Wasserfläche von 580 Quadratkilometern. Das entspricht einer sehr hohen Besiedlungsdichte. Ausserdem werden in der Schweiz pro Jahr und Kopf rund 100 Kilogramm Plastik erworben, womit wir zu den Verbraucherfreudigsten in Europa gehören. Der Anteil an Verpackungsmaterial, also typischem Einwegplastik, liegt dazu in der Schweiz mit 70 Prozent noch viel höher als in der EU, wo Verpackungen noch einen Anteil von 40 Prozent am konsumierten Kunststoff haben.
Weitere Studien in Planung
Die bisherige Studie konnte leider keinen Aufschluss darüber bringen, woher das gefundene Plastik im Genfersee genau stammt. Bei Mikroplastik handelt es sich oft um Bruchstücke grösserer Kunststoffwaren, die sich unter mechanischem Einfluss zerkleinert haben, weshalb sie schwer zu identifizieren sind. Zwar konnten Schnipsel von Folien und Schaumstoffen ausfindig gemacht werden, welche höchstwahrscheinlich zu Verpackungen gehörten, doch es bleibt schwer zu erkennen von welchen Produkten das Plastik genau stammt und woher es in den See gelangt.
Eine für 2020 geplante Studie soll darüber mehr Klarheit bringen: Am Ausfluss vom See in die Rhone wird neben Mikroplastik auch Meso- und Makroplastik gesammelt werden. Diese Plastikteile haben einen Durchmesser zwischen fünf Millimeter und 50 Zentimeter, dadurch werden ihr Ursprung oder sogar ganze Objekte weitaus öfter zu erkennen sein. Weiss man, welche Sorten von Plastik im See landen, kann man vielleicht auf seine Quellen schliessen und so gezieltere Massnahmen zur Verhinderung treffen.
Mehrfacher Einfluss auf die Umwelt
Schwimmender Plastik verharrt nicht im Seebecken, das Gewässersystem ist durch Flüsse verbunden und dadurch immer in Bewegung. Der Genfersee hat seinen Ausfluss in die Rhone, welche von dort aus ganz Frankreich von Nord nach Süd durchquert und schliesslich ins Mittelmeer mündet. Die Frage wieviel Plastik aus dem See von der Rhone mitgetragen wird, veranlasst Hagmann und Potter dazu, am Ausfluss des Sees zeitgleich eine zweite Studie durchzuführen: Es sollen auch hier Proben von Mikroplastik genommen werden. Über einen Zeitraum von zwölf Monaten wird gemessen, wieviel Milligramm pro Quadratmeter den See verlassen und so prädestiniert sind, in anderen Gewässern zu landen. Voruntersuchungen deuten auf ähnliche Grössenordnungen wie im Bereich des Sees hin (2.12 mg/m3).
„Rund 80 % des Kunststoffs im Genfersee stammt vom Abrieb von Autoreifen.“
Plastik in der Umwelt kann Schäden verursachen, welche im marinen Umfeld bereits weitreichend erforscht sind. Von Tieren geschlucktes Plastik kann beispielsweise zu sperrig sein, um wieder ausgeschieden zu werden und blockiert so die Mägen. Das kann dazu führen, dass unter anderem viele Vögel bei sozusagen «vollem» Magen verhungern. Mülltüten oder Plastikschnüre können Tiere strangulieren oder ersticken. Lebensräume können zerstört werden, weil am Grund lebende Pflanzen von Kunststoffablagerungen bedeckt werden und kein Licht mehr bekommen. Beim Ökosystem See sind die Auswirkungen bisher kaum untersucht, die Wissenschaftler rechnen jedoch mit vergleichbaren Effekten, da sich die beiden Lebensräume in entscheidenden Punkten ähneln.
Infobox: So werden dem See Proben entnommen
Zur Gewinnung von Mikroplastikproben verwenden die Forscher sogenannte Manta-Netze (Grafik, siehe unten), die bei langsamer Fahrgeschwindigkeit über einen bestimmten Zeitraum an der Seite des Bootes hergezogen werden. Ihren Namen haben die Netze dem breiten Metallmaul zu verdanken, welches die obersten fünfzehn Zentimeter der Wasseroberfläche durchstreift und so schwimmende Partikel im daran befestigten Netz sammelt. In diesem befindet sich nach einer solchen Aktion jede Menge organisches Treibgut, Plankton und einige Plastikstückchen.
Im Labor werden die Proben durch Siebe gespült und so gereinigt und nach Grösse aufgeteilt. Das Plastik wird aus dem organischen Material heraussortiert. Danach wir es gewogen und in übersichtliche Kategorien unterteilt, beispielsweise in Fasern, Folien, Schaumstoffe oder unzuordenbare Bruchstücke. So können die Forscher feststellen, wie viel Gramm Mikroplastik pro Quadratkilometer an der Oberfläche des untersuchten Gebiets treiben und wie die Zusammensetzung ist.
Schwimmendes Mikroplastik ist aber bei weitem nicht der einzige Rückstand von Kunststoffen, der in Gewässern zu finden ist. Auch am Ufer, am Grund und in den Organismen eines Gewässers sammelt sich Plastik an, und es gibt auch grössere schwimmende Plastikobjekte (Meso-, Makroplastik usw.). Die Untersuchung von schwimmendem Mikroplastik erweist sich jedoch als nützlicher Wert: Da die Messmethode relativ unkompliziert und kostengünstig ist, existieren bereits Daten aus vielen Gewässern, sodass mit dieser Einheit gut Vergleiche angestellt werden können – so werden die Zahlen erst aussagekräftig.
Gefahr für die ganze Nahrungskette
Die grösste Sorge gilt momentan den toxikologischen Folgen, welche mutmasslich von Plastik ausgehen. Kunststoffe enthalten teilweise Zusatzstoffe, zum Beispiel Brandverzögerer oder Weichmacher, die stark gesundheitsschädigend sind. Besonders in älterem Kunststoff, dessen Herstellung noch keinen strengen Auflagen unterlag, ist in unvorhersehbaren Mengen damit zu rechnen. Ein Faktor, der unbedingt in Betracht gezogen werden sollte, da sich das Plastik im Wasser seit Beginn nur akkumuliert und nicht abbaut. Im Labor der EPFL Lausanne wird momentan mit eigens entwickelten, künstlichen Mägen untersucht, ob sich solche Schadstoffe durch die aggressiven Verdauungssäfte aus dem Plastik lösen können. Zudem besitzt Kunststoff die Eigenschaft, im Wasser gelöste Chemikalien wie Pestizide etc. zu binden und so Giftstoffe an seiner Oberfläche zu konzentrieren. Beide Varianten können schwerwiegende Folgen nach sich ziehen: Wird das toxische Plastik von kleinen Lebewesen, wie zum Beispiel Plankton eingenommen, gelangen die Gifte in die gesamte Nahrungskette.
An der Oberfläche treibt nur die Spitze des Eisbergs
Plastik findet sich im See nicht nur an der Oberfläche, es ist auch an den Ufern, am Grund und in den Organismen zu finden, welche im und ums Gewässer leben. Eine Studie aus der Westschweiz (Boucher et al., 2019) schliesst aus mathematischen Vorhersagen, dass sich im Genfersee etwa 600 Tonnen Plastik befinden müssten. 83 Prozent davon stammen laut Hochrechnungen vom Abrieb von Autoreifen – kleinste Partikel, die durch ihre Dichte sinken und sich am Seegrund ablagern. Teilchen also, die bis jetzt nicht in die Studie von Oceaneye eingeflossen und auch sonst aus Gründen der Machbarkeit noch nie empirisch untersucht worden sind. Verpackungsmaterial macht dagegen nur einen errechneten Anteil von sechs Prozent aus und Textilwaren oder Rückstände aus der Bauindustrie gerade mal noch drei Prozent bzw. zwei Prozent. Weitere sieben Kategorien wie Kosmetik oder Landwirtschaft etc. teilen sich die restlichen sechs Prozent. Dass Oceaneye sich für die Untersuchung des Oberflächenplastiks entschieden hat, liegt wie gesagt an der recht einfachen Testbarkeit und der guten Vergleichbarkeit dieser Daten, bietet jedoch keinen totalen Blick aufs Ausmass der Verschmutzung. Bouchers Studie zeigt, dass noch mit weitaus grösseren Plastikmengen zu rechnen ist, als man es nach den Zahlen von Oceaneye erwarten könnte.
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Autorin
Jael Bieri
Illustratorin

Luisa Morell
Experte Oceaneye

Pascal Hagmann
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Denken lernen
Allgemein
Kann man Denken – speziell eigenständiges und kritisches Denken – in der Schule, im Studium lernen? Kann man so was unterrichten? «Selbst-Denken zu unterrichten ist, anders als Inhaltsvermittlung, ein Widerspruch in sich», sagt Prof. Dr. Christof Arn von der Hochschule für Agile Bildung in Zürich. Erfahre hier, wie es dennoch möglich wird.
Stella Stejskal-Blum | 29.03.2020
Nervenzellen, Visualisierung von Colin Behrens auf Pixabay
Prof. Dr. Christof Arn erteilte Weiterbildungsstudierenden den Auftrag, den Gedankengang in einem Fachtext eines renommierten Spezialisten zu verstehen. Sie scheiterten. In der gemeinsamen Analyse stellte sich heraus, dass der Fachtext einen entscheidenden Denkfehler enthielt. Selbst Prof. Arn hatte diesen übersehen. An diesem Beispiel zeigt sich: Die Studierenden hatten kritisch gedacht, ohne es zu wollen. Letztlich lag der Denkfehler im Text offen zu Tage. Noch kritischer Lesen geht nicht. Also: Schon der Versuch, zu verstehen, trägt das Potenzial zum kritischen Denken in sich – wenn man es zulässt. Oft wird leider gesagt: «Bitte zuerst verstehen, dann kritisch denken!». Christof Arn hält das auch didaktisch für ungünstig. Denn eine solche Haltung macht das Denken der anderen gross und hält das eigene klein. Besser: Die Lernenden ermuntern, mit einer selbstbewusst-kritischen Haltung schon ans Verstehen herangehen.
Infobox:
Nervenzellen: Das menschliche Gehirn besteht aus abermilliarden von Nervenzellen. Für weitere Informationen klick hier.
Curriculumsentwicklung: Die Neuentwicklung oder die Weiterentwicklung von Studiengängen.
Meta-Curriculum: Meint den Vergleich mehrerer Studiengänge zwecks Definition von Vorgaben.
Denken Fördern hat Bumerang-Effekt
Aber Achtung: Wenn Lehrende Lernende zu kritischem Denken ermuntern, kann das auch ein Bumerang sein. Denn jetzt gehen die Lernenden mit einer genauso selbstbewusst-kritischen Haltung an eben diese Lehrenden heran – also beispielsweise an Prof. Dr. Christof Arn selbst. Will man dann sich selbst treu bleiben und weiter das kritische Denken der Lernenden fördern, heisst das: «Ich helfe ihnen, mich zu kritisieren! Noch dazu vor Publikum! Und zwar helfe ich ihnen fair, nicht nur rhetorisch, nicht nur «pädagogisch», sondern in echt.» Das ist ja fast schon paradox: Ich helfe anderen dabei, dass sie mich kritisieren. «Selbst-Denken zu lehren trägt Spannung in sich, die man erst auszuhalten lernen muss.»
„Denken heisst Kauen: Wer sich ernähren will, muss kauen – oder pürierte Nahrung zu sich nehmen.“
Ein guter Weg ist, wenn Lehrende den Lernenden genau zuhören. Genaues Zuhören der einen unterstützt selbständiges Denken der anderen. «Critical thinking is an aspect of the activity of thinking.» (Moon 2008, 33) Will heissen: Menschen denken, sobald sie denken, schon kritisch – sie merken es nur manchmal nicht. Man kann also kritisches Denken bewusst machen, anstatt es hervorbringen zu wollen. Allerdings: Wird man noch als lehrende Person wahrgenommen, wenn man vor allem zuhört? Wirkt man noch kompetent, wissend? Ist das noch rollenkonform? Schon wieder eine innere Spannung, fast ein Widerspruch.
Von der Theorie in die Praxis
Dozierende, die sich diesen tendenziellen Widersprüchlichkeiten stellen wollen, müssen fortlaufend an ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung arbeiten. Sie müssen Differenzen zu- und stehenlassen können. Wenn unterschiedliche, vielleicht sogar einander widersprechende Positionen, Theorien oder Thesen im Raum stehen und die Entscheidung zwischen ihnen konsequent offen gehalten wird, ist es unmöglich, dass die Lernenden bloss versuchen, ein Denkergebnis anderer zu übernehmen. Die Offenheit der Situation provoziert eigenes Denken der Lernenden. Ideal sind echte Differenzen im Co-Teaching, die von zwei Lehrenden gemeinsam in den Dienst des Lernens der Lernenden gestellt werden.
„Es braucht Mut, konturiert zu denken, also nicht einfach Denkergebnisse anderer zu übernehmen.“
Unterschiedliche Einschätzungen erhalten Raum und dürfen kompromisslos nebeneinander stehenbleiben. Das setzt voraus, dass die lehrende Person die entsprechende Ambiguität tatsächlich verkörpert, was von einer entsprechend entwickelten Persönlichkeit begünstigt wird. Denkt die Lehrperson selbst im Richtig-Falsch-Modus, geht sie von «Musterlösungen» als Referenzen aus, torpediert das die Förderung des Denkens der Studierenden. Sich selbst als Lehrperson anders, offener zu den Denkprozessen der Studierenden zu stellen, ist anspruchsvoll. Der Weg geht Richtung «Freude am Widerspruch» (Bianchi 2017, 69).
Denken heisst Kauen
Wer sich ernähren will, muss kauen – oder pürierte Nahrung, «Vorgekautes», zu sich nehmen. Leider wird im Bildungssystem viel solch Vorgekautes geliefert. Mehr eigenständiges Denken entsteht, wenn man nicht vereinfachte Texte vorlegt, sondern hilft, anspruchsvolle Texte zu lesen. Wenigstens hie und da.
Denken braucht Mut. Dinge nur nachsprechen geht auch ohne. Die Autorin und Forscherin Dana Delibovi (2015) zeigt, dass die kognitiven Fähigkeiten der Lernenden sich genau dann entfalten, wenn Charakterentwicklung geschieht, wenn eine Fehlerkultur aufgebaut und ermutigt wird.
Konkret umgesetzt an einem Beispiel: Prof. Arn untersucht ein Dokument, das Vorgaben macht für die Inhalte und Themen des Ethikunterrichts für angehende ÄrztInnen, PhysiotherapeutInnen, Fachfrauen/-männer Gesundheit und andere Gesundheitsberufe. In diesem Dokument werden plausibel ausgewählte Kerninhalte von optionalen Themen unterschieden.
Allerdings: Die Fähigkeit zum Denken selbst hingegen bleibt eher am Rande. Explizite Nennungen von kritisch «Denken» finden sich insgesamt zwei; keine der Tugenden wie Mut oder Beharrlichkeit oder Offenheit, welche die Eigenständigkeit im Denken stärken, kommen vor. Das ist ungünstig. Denn der Mut, Gegenpositionen zu vertreten und in gemeinsame Prozesse und Entscheidungen einzubringen, ist in Gesundheitsberufen besonders bedeutsam.
Er ist zudem in ausgeprägt hierarchisch strukturierten Organisationen anspruchsvoll. Dies sind zwei zusätzliche Gründe, im Ethikunterricht gerade in diesen Berufen das «Denken» gegenüber den «Denkergebnissen anderer» besonders zu fördern, und Denkfähigkeit gleich zu gewichten wie zugehörige Tugenden. Glücklicherweise ist nämlich die Auseinandersetzung mit Themen der Bioethik besonders geeignet, Eigenständigkeit im Denken zu fördern.
Das alles spricht also nicht gegen «Inhalte», wie sie zum Beispiel in diesem Meta-Curriculum primär als Wissensbestände benannt werden. Vielmehr können auch diese so thematisiert werden, dass dabei die Denkfähigkeit gefördert wird. Nur: Genau das dürfte in diesem Dokument stehen.
Was ist Denken-Lernen wert?
Das gilt generell für Curriculumsentwicklung: Wie hoch Denkfähigkeit im Vergleich zu Wissensbeständen gewichtet werden soll, ist eine Wertefrage. Es geht hier also auch um eine «Ethik der Bildung»: Ein expliziter und reflektierter Umgang mit den Werten, welche die Didaktik, den Unterricht prägen sollen. In der Pädagogik werden die ihr jeweils inhärenten Wertepräferenzen in der Regel, wenn überhaupt, unter dem Label «Menschenbild» behandelt. Die Pädagogik könnte von der Methodik dezidiert ethischer, also methodisch systematischer Wertereflexion, daher sehr profitieren.
„Substanzielle Selbstreflexion bezieht sich auch auf die eigene Identität und Person, nicht nur auf das eigene Handeln.“
Selbstreflexion von Lehrenden und ihre eigene Entwicklungsoffenheit sind zentral. So kann ihr eigener Umgang mit Wertefragen, Paradoxien und Kritik – somit Förderung von Denken – gelingen. Das alles geht tief: Substanzielle Selbstreflexion bezieht sich auch auf die eigene Identität und Person, nicht nur auf den eigenen Unterricht und das eigene Handeln. Es ist ein Lernprozess, mit eigenen Fehlern entspannt umgehen zu können und damit, kritisiert oder sogar angegriffen zu werden. Kritikoffenheit kann besonders viel dazu beitragen, dass Lernende Denken wagen.
Sich als lehrende Person auf diesen offenen Weg der Persönlichkeitsentwicklung hin zu mehr und tieferer Selbstreflexion und damit übrigens auch einem entspannteren Umgang mit Paradoxien zu begeben, ist vermutlich der wirksamste Hebel zur Beförderung der Denk-Lehrfähigkeit.
Kritisch hinterfragen und aushalten
Denken lehren heisst, gewissermassen etwas Unmögliches zu tun. Es funktioniert, wenn man diese Widersprüchlichkeit aushalten kann. Es funktioniert nicht, wenn man meint, man müsse es nur richtigmachen, und dann würden die Schüler oder Studierenden schon lernen, selbst zu denken. Wer herausgefunden zu haben meint, wie es geht, kann es schon nicht mehr. Wer hingegen fortlaufend Denken aushalten kann, wenn es geschieht und wer bereit ist, fortlaufend das eigene Handeln neu darauf auszurichten – und Situationen, in denen das nicht gelingen will, als Entwicklungsaufgabe für die eigene Persönlichkeit zu sehen – ist gut unterwegs.
Ein einfacher Einstieg in diese Richtung kann folgender Ansatz sein: Im Grunde geht es darum, die Studierenden und sich selbst ernst zu nehmen. Das ist wichtiger als das klassische «Recht haben». Der Mut, konturiert zu denken, also nicht einfach Denkergebnisse anderer zu übernehmen, ist in echtem und fortlaufendem Ernstnehmen enthalten.
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Autorin

Stella Stejskal-Blum
Experte HfaB

Christof Arn
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Bakterien auf Standby – Zystitis ahoi!
Allgemein
Antibiotikaresistente Bakterien bekamen in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit. Zu Recht – sie zählen zu den grössten Herausforderungen, mit denen wir in Zukunft vermehrt, aber auch schon heute zu kämpfen haben. Resistente Bakterien sind allerdings nicht die alleinigen Übeltäter, wenn es um schwer zu beseitigende Infektionen, wie zum Beispiel einer Blasenentzündung geht. Im Gespräch mit einer Expertin des Universitätsspitals Zürich.
Kim Bodmer | 01.03.2020
Bakterien Symbolbild Foto von CDC auf Unsplash
Leonie* ist Mitte Dreissig, hat eine Blasenentzündung und sitzt im Wartesaal des Universitätsspitals Zürich. Zum dritten Mal in diesem Jahr. Erstmals bemerkbar hat sich das Brennen beim Urinieren vor acht Monaten gemacht. Die Ärzte verschrieben ihr Antibiotika, und nach zwei Wochen war alles wieder gut. Doch nur für eine kurze Zeit, denn bald brannte es erneut, sie unterzog sich abermals einer Behandlung und auch diese schien erfolgreich. Doch jetzt sitzt sie wieder hier und blättert leicht nervös in einem wahllos aufgegriffenen Magazin.
Leonie ist kein Einzelfall. Infektionen, die trotz erfolgreicher Behandlung mit Antibiotika kurz darauf wieder aufflammen, sind für die Ärzte des Universitätsspitals Zürich nichts Neues. Annelies Zinkernagel, Leitende Ärztin an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene erklärt: «Viele Bakterien mit gewissen Eigenschaften können solche hartnäckigen, immer wieder aufflammenden Infektionen verursachen – und ich spreche nicht von antibiotikaresistenten Bakterien. Gegen diese würde eine Antibiotikatherapie nämlich von Beginn an keine Wirkung zeigen.
Infobox Begriffe
Bakterielles Wachstum:
Bakterien sind Einzelzellorganismen, jedes Bakterium besteht aus einer einzigen Zelle. Indem sie sich teilen, vermehren sie sich und geben ihre Gene weiter. Aus einer Zelle werden dabei zwei.
Infektion:
Von einer Infektion spricht man, wenn ein Organismus von Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Pilze) besiedelt wird, sich diese vermehren und dadurch Krankheitssymptome auslösen.
Das Kultivieren:
Im biologischen Kontext bedeutet kultivieren das Erzeugen und Aufrechterhalten von Bedingungen, die das Wachstum eines bestimmten Organismus erlauben.
Die Bakterien, mit denen wir es in Leonies Fall zu tun haben, bilden dichte Schleimschichten, sogenannte Biofilme, bestehend aus Millionen von Bakterien. Eine kleine Subpopulation des Biofilms besteht aus Persister-Bakterien. Bei Gefahr treten die Persister in eine Art Schlafzustand, während welchem ihnen nichts passieren kann. Ist die Luft wieder rein, wachen sie auf und beginnen sich zu vermehren. »
Persistenz und Resistenz – der Unterschied
Resistente Bakterien haben einen Weg gefunden, Antibiotika für sich unschädlich zu machen. Beispielsweise indem sie den Wirkstoff inaktivieren oder einfach wieder aus sich herauspumpen. In der Gegenwart von Antibiotika wachsen resistente Bakterien unbeirrt weiter. Diese Fähigkeit geht auf eine Veränderung in ihrer Genetik zurück, also dem Erwerb von Resistenzgenen. Teilt sich ein resistentes Bakterium, kann es das Resistenzgen an seine Nachkommen weitergeben, sodass nach kurzer Zeit die gesamte Population resistent gegen ein bestimmtes Antibiotikum ist.
„Bei Gefahr treten die Persister in eine Art Schlafzustand, während welchem ihnen nichts passieren kann.“
Annelies Zinkernagel, Leitende Ärztin Universitätsspital Zürich
Persister funktionieren in vielerlei Hinsicht anders. Sie machen stets nur einen winzigen Bruchteil einer ganzen Population aus. Ausserdem sind die Nachkommen der Persister bis auf einige wenige Zellen grösstenteils Nicht-Persister. Der primäre Auslöser von Persistenz ist Stress – Nährstoffmangel, Dichtestress, ein zu saures Milieu, die verteidigenden Zellen unseres Immunsystems oder eben auch die Gegenwart von Antibiotika.
Alles, was ihre Existenz bedroht, führt in einem kleinen Bruchteil der Bakterienpopulation, den Persistern, zum Stillstand. Anders als die resistenten Bakterien, wachsen Persister in der Gegenwart von Antibiotika nicht oder nur sehr langsam. Vergleichbar mit einem Winterschlaf, ist alles, was sie dann noch tun, nicht zu sterben.
Im Innern eines Persisters
Sich ohne Resistenzgene von einem Antibiotikum nicht töten zu lassen – wie funktioniert das? Dazu muss man wissen, wie Antibiotika Bakterien Schaden zufügen. Antibiotika zielen darauf ab, überlebenswichtige Zellvorgänge in Bakterien lahmzulegen. Ciprofloxacin zum Beispiel, womit die Ärzte Leonies Blasenentzündung behandelten, verhindert die Produktion von DNA, wodurch die Bakterien absterben und verschwinden. Übrig bleiben die Persister, deren Strategie darin besteht, sämtliche Zellvorgänge inklusive Wachstum herunterzufahren. So machen sie sich unangreifbar für Antibiotika, richten aber gleichzeitig auch keinen Schaden in Leonies Blase an.
Für Leonie und die Ärzte entsteht der Eindruck, die Infektion sei beseitigt, sie beenden die Behandlung. Jetzt erwachen die Persister aus ihrem reglosen Zustand, nehmen ihr Wachstum wieder auf und kurz darauf sitzt Leonie erneut im Wartesaal.
Einzelne Zellen zu untersuchen ist schwierig
Beinahe achtzig Jahre ist es her, als das Phänomen der Persistenz zum ersten Mal beobachtet wurde. Dennoch wissen wir heute vergleichsweise wenig über die molekularen Mechanismen bakterieller Persistenz. Das liegt unter anderem daran, dass Persisterzellen sich nur schwer isolieren und kultivieren lassen – weil sie so wenige sind, sich kaum teilen und ihr Zustand reversibel ist.
Durch den technologischen Fortschritt der letzten fünfzehn Jahre sind Wissenschaftler heute besser im Stande, Persistenz zu erforschen. Und sie sind sich einig: Chronische Infektionen sind ein Problem, dessen Lösung nicht allein in der Entdeckung neuartiger Antibiotika liegt, sondern in der gleichzeitigen Entwicklung von Methoden, um Persister aus ihrem Schlafzustand wecken.
* fiktives Beispiel
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Autorin

Kim Bodmer
Expertin Unispital Zürich

Annelies Zinkernagel
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Schweizer Medienkompetenz vs. Fake News
Allgemein
Wo stehen die Schweizer Medien in Zeiten von Fake News und der Omnipräsenz von Social Media? Fake News, wie beispielsweise jene über den umstrittenen Ursprung des Coronavirus SARS-CoV-2, häufen sich und verbreiten sich vor allem via Social Media wie ein Lauffeuer. In Zeiten von unsicheren Quellen und Falschinformationen lohnt es sich, wieder vermehrt auf die Schweizer Informationsmedien zu setzen, um an wahrheitsgetreue Informationen zu gelangen.
Romina Gilgen | 18.02.2020
Foto: Elijah O’Donnell auf Unsplash
Gerade für eine Gesellschaft spielen Medien eine zentrale Rolle, nicht umsonst werden sie als vierte Gewalt der Politik betrachtet. Im Idealfall ermöglichen die Medien einen kritischen Dialog sowie eine Reflexion der Öffentlichkeit zu politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Themen. Der Leser wird jedoch in Zeiten von Fake News und Social Media immer mehr dazu genötigt, sich selbst ein Bild der Tatsachen zu konstruieren. Doch nicht alle Bürger besitzen diese Medienkompetenz oder nehmen sich die nötige Zeit, um sich ein fundiertes Bild der Tatsachen machen zu können. Das Forschungszentrum für Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich hat sich mit diesem Problem auseinandergesetzt und sowohl die Qualität der Schweizer Medien analysiert. Zudem lanciert das fög ein neues Projekt für mehr Medienkompetenz.
„Der Wandel von Hard-News zu Human-Interest-Themen kann als Hauptgrund für den Vielfaltsverlust der Schweizer Medien betrachtet werden.“
Seit über 10 Jahren untersucht das fög bereits die Berichterstattungsqualität der Schweizer Informationsmedien wie beispielsweise Formate der SRG oder der NZZ. Das Qualitätsverständnis hat es dabei an der demokratischen Leistungsfunktion festgemacht. Denn erst mit Hilfe der schweizerischen Informationsmedien, ist es möglich, eine Öffentlichkeit herzustellen. Zu den Schweizer Informationsmedien zählen grundsätzlich Schweizer Zeitungen sowie Magazine oder Fernseh- als auch Radiosendungen und Newswebsites. Zu diesem Zweck sollen sie eine ausgewogene Berichterstattung hervorbringen, so dass sich die Menschen ein Bild verschiedener Standpunkte machen können. Kurzgefasst sollen die Informationsmedien den öffentlichen Diskurs mit einer möglichst hohen Qualität abbilden.
Von Hard News zu Human-Interest-Themen
Die Angebote der Schweizer Medien verlieren laut den Forschern nur wenig an Qualität, zudem sind nicht alle Qualitätsdimensionen gleichermassen davon betroffen. Ein konstant hohes Niveau weisen auf der einen Seite die sachliche Berichterstattung, die redaktionelle Eigenleistung sowie die Transparentmachung von Quellen auf. Die Schweizer Medien verlieren hingegen klar an Relevanz und Vielfalt. Einbussen lassen sich ebenfalls in den Bereichen Einordungsleistung, Beitragsrelevanz und inhaltliche Vielfalt verzeichnen. Ein immer wichtiger werdender Faktor sind Soft -News. Unter Soft -News versteht man Berichte über Lifestyle-Themen, Promis und weitere Unterhaltungsbeiträge. Im Hard -News-Bereich findet hingegen eine Verschiebung des Berichterstattungsfokus statt, dieser geht von gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen hin zu einer Fokussierung auf Personen. Insbesondere Beiträge zu Human-Interest-Themen haben zugenommen, dabei sind beispielsweise Alltagsthemen oder emotionale Themen gemeint, bei denen jeder mitreden kann. Der Experte Jörg Schneider, Associate Researcher des fög, ergänzt die Aussagen der Studie: «Die Schweizer Informationsmedien versuchen auf die sozialen Medien zu reagieren, indem sie vermehrt Meinungen und Positionen aufzeigen». Der Wandel von Hard-News zu Human-Interest-Themen kann als Hauptgrund für den Vielfaltsverlust der Schweizer Medien betrachtet werden.
Bedeutung der «Demokratische Leistungsfunktion»:
Ein Qualitätsverständnis, das auf die demokratischen Leistungsfunktionen abstellt, macht es erforderlich, alle Medien nach demselben Standard zu bewerten. Denn ein Medium mag marktlich zwar erfolgreich sein, aber dennoch keinen oder nur einen bescheidenen Beitrag zum demokratischen Gemeinwesen beisteuern. Kurzum: Nicht alles, was der Markt belohnt, ist auch demokratiepolitisch erwünscht. Ziel des «Jahrbuchs Qualität der Medien» war und ist es deshalb, ein demokratietheoretisch fundiertes Instrument zu entwickeln und auf alle wichtigen Medientypen anzuwenden. (fög)
Werte sind wichtig
Glücklicherweise sind nicht alle Dimensionen beim Qualitätsverlust gleichermassen betroffen. Insbesondere bei der Professionalität schneiden die Schweizer Medien gut ab. Diese Professionalität ist wichtig für die Vertrauensbasis zwischen einem Medium und dem Konsumenten. Die «NZZ» beispielsweise schreibt, dass die Schweizer Medien vermehrt auf Glaubwürdigkeit und Dialog setzen sollten, die Leser seien schliesslich «Partner auf Augenhöhe». Denn Leser sind vor allem dann gewillt, eine Zeitung zu abonnieren, wenn das gegenseitige Vertrauen da ist, dafür muss das Medium ähnliche Werte vertreten wie der Leser. Dies gelingt beispielsweise, indem das Medium Nähe zum Leser zeigt. Gerade in Zeiten von Facebook und Twitter ist dies umso wichtiger.
„Professioneller Journalismus ist wichtig, um Standards für die öffentliche Kommunikation zu setzen. Ebenso muss sich der Nutzer bewusst sein, dass er als Kommunikator in die Öffentlichkeit tritt, sobald er beispielsweise auf Social Media Beiträge teilt oder kommentiert.“
Jörg Schneider, Associate Researcher fög, UZH
Das Medium soll nicht als unnahbare Organisation angesehen werden, sondern als Freund, der einem wichtige Informationen liefern kann. Der Experte gibt aber zu bedenken, dass es durchaus einen Unterschied zwischen Journalist und Nutzer geben muss. Der Journalist sollte weniger ein Freund, sondern ein vertrauenswürdiger Kommunikationsprofi sein. «Professioneller Journalismus ist wichtig, um Standards für die öffentliche Kommunikation zu setzen. Ebenso muss sich der Nutzer bewusst sein, dass er als Kommunikator in die Öffentlichkeit tritt, sobald er beispielsweise auf Social Media Beiträge teilt oder kommentiert», meint Jörg Schneider.
Zeit und Geld entscheiden
Zugenommen haben Beiträge, welche meinungsbetont sind, wie beispielsweise Kommentare oder Kolumnen. Dies ist grundsätzlich keine schlechte Entwicklung, wenn sie aber auf Kosten der Recherche geschieht, kann dies problematisch werden. Konkret bedeutet das: Während die Hintergrundberichterstattung abnimmt, nehmen die meinungsorientierten Formate zu. Eine solche Entwicklung ist mit Vorsicht zu geniessen, denn die Gefahr wächst, solche weniger ressourcenintensiven Meinungsformate zu fördern. Der hohe Ressourceneinsatz, welcher in einer klassischen journalistischen Recherche benötigt wird, kann durch die allgegenwärtigen Sparmassnahmen teilweise nicht mehr gewährleistet werden. Dies kann negative Auswirkungen haben, wenn es auf Kosten der Hintergrundberichterstattung geht. Auch Jörg Schneider stimmt dieser Aussage zu: «Es fehlen die Ressourcen!». Die Frage, welche sich die Medienbranche folglich stellen sollte, ist, wie können wir mehr Ressourcen in den Journalismus fliessen lassen? Zudem meint Schneider, dass es wichtig ist, ein Bewusstsein für Newsqualität zu schaffen. Eine Mischform, bei der man beispielsweise für einige Artikel zahlen muss, hingegen andere vom Service Public als Grundversorgung zur Verfügung gestellt werden, könnte sich der Experte in Zukunft gut vorstellen.
Vier aufklärerische Qualitätsansprüche an das öffentliche Räsonnement
I) Die Relevanz: Bürger sollen die allgemein relevanten Dinge debattieren
II) Die Universalität (Vielfalt): Wenn Vernunft regiert, müssen alle begründeten Meinungen zugelassen sein und kein Thema darf dem Zugriff der öffentlichen Debatte entzogen werden
III) Die Zugänglichkeit: Unabhängig von Stand und Herkunft soll die Öffentlichkeit für alle zugänglich sein
IV) Vernünftigkeit: Orientierung am Prinzip der sanften Gewalt des besseren Arguments (… und nicht der Polemik oder der «ad hominem»-Rede)
Diese Qualitätsansprüche an «gute» öffentliche Debatten sind gemäss fög immer noch gültig und bilden bis heute die Basis der demokratischen Ordnung moderner, zivilisierter Gesellschaften. (fög)
Sparen auf Kosten der Einordnung
Die Sparmassnahmen der Redaktionen machen sich also gerade in der Dimension der Einordnung bemerkbar. Das Kernproblem versteckt sich eben darin, dass man günstig zu Fake News kommt, während die tiefgründig recherchierten Angebote Geld kosten. Dank des Zusammenspiels verschiedener Dimensionen kann sich die Qualität der Schweizer Medien trotzdem einigermassen halten. Die journalistischen Ressourcen können schlussendlich als entscheidender Faktor für Qualitätsangebote angesehen werden. Daraus lässt sich ableiten, dass es äusserst wichtig ist, den Informationsjournalismus mit ausreichend finanziellem und personellem Kapital zu versorgen. Nur so kann der Informationsjournalismus seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen.
Medienkompetenz- ein Schulfach fürs Leben
Das fög der Universität Zürich geht sogar noch einen Schritt weiter und möchte mit ihrem Projekt Newsup.ch mehr Medienkompetenz in der Schule unterrichten. Dazu hat sie ein neues Projekt für Oberstufenschüler und Gymnasiasten lanciert. Das fög stellt hierfür eine eigene Redaktion zusammen, die damit beauftragt ist, die Lehrerinnen und Lehrer mit entsprechenden Unterrichtsmaterialien zu versorgen. Sie sollen mit Hilfe der bereitgestellten Unterlagen in der Lage sein, den Schülern anhand anschaulicher Beispiele den Unterschied zwischen Fake News und journalistischen Informationen zu erklären. «Angesichts der neuen Medien und der damit einhergehenden Informationsfülle brauchen aber nicht nur die Jungen, sondern alle Nutzerinnen und Nutzer Medienkompetenz», meint Jörg Schneider. Auf diese Weise wären die Nutzer selbst in der Lage, Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.
„Angesichts der neuen Medien und der damit einhergehenden Informationsfülle brauchen aber nicht nur die Jungen, sondern alle Nutzerinnen und Nutzer Medienkompetenz.“
Jörg Schneider, Associate Researcher fög, UZH
Mit diesem Projekt will das fög seine Forschungsergebnisse vermehrt mit der interessierten Öffentlichkeit teilen und es dieser zugänglich machen. Vor allem aber sollen die jungen Menschen damit erreicht werden. Die Jugendlichen von heute sind mit ihrer generationsspezifischen Mediennutzung aufgewachsen, sie informieren sich nicht mehr mit Hilfe von TV und Zeitungen, sondern mehrheitlich über Newssites, Blogs oder Social Media. Die Gefahr auf Social Media ist, dass man nur eingeschränkte, gefilterte Informationen erhält. Auf diese Weise wird die Berichterstattung sehr einseitig.
Echte News von Falschen unterscheiden
Die Jugendlichen sollen ihr eigenes Nutzungsverhalten hinterfragen, Kenntnisse über unser Mediensystem sammeln, Quellen verifizieren, Informationen einordnen, um sich so eine fundierte Meinung zu bilden. Konkret kann dies unter dem Begriff «Medienkompetenz» zusammengefasst werden. Das fög will den Jugendlichen ausserdem näherbringen, dass es ihnen Vorteile bringt, gut informiert zu sein. Die einerseits vom Newsjournalismus abgewendeten und andererseits von den veralteten Newsformaten nicht mehr erreichten jungen Menschen, welche zwischen den 16- bis 19- Jährigen ungefähr 56% ausmachen, sollen wieder ein Verständnis für den Mehrwert und die Wichtigkeit von solchen Angeboten erlernen. So, dass sie in Zeiten der Informationsflut betreffend des Coronavirus selbst herausfinden können, welche Informationen nun mit grosser Wahrscheinlichkeit Fake News sind und welche nicht.
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Autorin

Romina Gilgen
Experte Uni Zürich (fög)

Joerg Schneider
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Wer sagt, dass es wirkt?
Allgemein
Die moderne Medizin hält eine Vielzahl an Therapien und Präventionsmassnahmen bereit. Doch wer bestimmt eigentlich, was wirkt? Die beiden Informationsspezialistinnen Doris Kopp und Beatrice Minder vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern geben Einblick, wie mit Forschung grösstmögliche Gewissheit, sogenannte Evidenz, hergestellt wird.
Tanya Karrer | 15.01.2020
Künstlerische Darstellung eines DNA-Strangs von Arek Socha auf Pixabay
Wer einen Blick auf die Computer von Doris Kopp und Beatrice Minder im Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) an der Universität Bern wirft, dem wird leicht schwindelig. Endlose, komplizierte Such-Stränge ziehen sich über ihre Bildschirme. In medizinischen Datenbanken, wie zum Beispiel PubMed, suchen die beiden Expert Searchers in rund 30 Millionen Einträgen nach den „richtigen Nadeln im Heuhaufen“, wie Kopp sagt. „Dafür benötigen wir ausgeklügelte Suchstrategien“, ergänzt ihre Kollegin Minder. Datenbanken? Was ist mit Labor und Petrischale? Kopp lacht. Ja, auch sie habe vor über zehn Jahren, als sie als Bibliothekarin ans Institut kam, nach dem Labor gefragt. Heute weiss sie, dass Forschung nicht nur in der Petrischale stattfindet.
„Informations-Spezialistinnen tragen mit ihren Datenbank-Suchen massgebend zum Gelingen einer Forschungsarbeit bei.“ Doris Kopp
Desktop-Forschung nennt sie diese andere Art der Wissenschaft. Sie finde nicht direkt am Patienten statt, sondern basiere auf bereits getätigten Studien oder anonymisierten Patientendaten. In sogenannten systematischen Übersichtsarbeiten, englisch: Systematic Reviews, werden mehrere klinische Studien zu einem Thema miteinander verglichen und ein Trend daraus herausgelesen. Dies ergibt im besten Fall die Evidenz, sagt also, was – nach dem heutigen Kenntnisstand – wirkt oder nicht. Oder was noch weiterer Forschung bedarf.
Evidenzforschung ist Teamarbeit
Wie gelangt man zu dieser Evidenz? Minder erklärt den Ablauf folgendermassen: „Zuerst formulieren die Forschenden eine Frage. Sie müssen genau wissen, was das Ziel ihrer Forschung sein soll. Auf Basis dieser Forschungsfrage suchen wir dann weltweit nach relevanter Literatur zum Thema“. Ein grosser Teil davon ist in Datenbanken erfasst. Nach internationalen Standards formulieren Kopp und Minder die Such-Anfrage. Laien können sich das als sehr komplizierte Google-Suche vorstellen: Verschiedene Suchbegriffe werden mit den Booleschen Operatoren AND, OR, NOT und anderen verbunden und eingegeben. Ist die Suche gut, spuckt die Datenbank Studien zum gewollten Forschungsthema aus. „Wir finden vielleicht zwanzig passende Studien. Die Forschenden prüfen diese anschliessend auf ihre Qualität und Resultate. Zum Beispiel bestätigen zwei davon, dass die untersuchte Therapie wirke, in achtzehn jedoch wurde keine Wirkung festgestellt“, erklärt Kopp den Prozess. Bevor man nun aber sagen kann, die Therapie wirke nicht, kommt die Statistik bzw. kommen die Statistiker ins Spiel. Sie berechnen unter anderem, wie viele Personen an den Studien teilnahmen und gewichten die Resultate entsprechend. Erst dann lässt sich eine belastbare Aussage zur Evidenz oder eben Wirksamkeit einer Therapie oder Massnahme machen.
Forschung muss nachvollziehbar, transparent und wiederholbar sein
Informationsspezialistinnen tragen mit ihren Datenbank-Suchen massgebend zum Gelingen einer Forschungsarbeit bei. Kopp freut sich daher, dass sie und ihre Kollegin seit kurzem in den veröffentlichten Studienberichten auch als Co-Autorinnen aufgeführt würden. Ihre Methoden für die Datenbank-Suche müssen jeweils für andere Forscher und Forscherinnen rund um den Globus nachvollziehbar, transparent und wiederholbar sein. Deshalb ist der Such-Strang auch in jeder systematischen Übersichtsarbeit aufgeführt.
Infobox Begriffe
Evidenz: „(…) unmittelbare und vollständige Einsichtigkeit, Deutlichkeit, Gewissheit (Duden)
Boolescher Operator: Ein boolescher Operator ist ein logischer Operator. Also ein Operator, der auf Wahrheitswerten operiert.
Er ist benannt nach George Boole. Der wichtigste Anwendungsbereich der booleschen Operatoren ist die Programmierung. (Wikipedia)
„Erst als die Forschung eine Evidenz für die Missbildung durch Contergan aufzeigen konnte, griffen die Behörden durch und verboten das Medikament.“ Beatrice Minder
Studie gut, alles gut? Nicht ganz. Minder gibt zu bedenken, dass es oft ziemlich lange dauern würde, bis Forschungsresultate auch im Alltag, z.B. in Spitälern oder Arztpraxen, zur Anwendung kämen. „Oft liegt es daran, dass die Evidenzlage nicht klar ist oder es noch Lücken in der Forschung gibt“, meint sie. Als Beispiel nennt Minder das Beruhigungsmittel Contergan, das in den 1960er Jahren zu Missbildungen bei Neugeborenen führte und einen Skandal auslöste. „Erst als die Forschung eine Evidenz für die Missbildung durch Contergan aufzeigen konnte, griffen die Behörden durch und verboten das Medikament“, ergänzt sie.
Infobox ISPM Universität Bern
Das Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern ist zugleich eine wissenschaftliche sowie akademische Organisation mit Mitarbeitern aus 23 verschiedenen Nationen. Es führt interdisziplinäre Forschung in den Bereichen Sozial- und Verhaltensgesundheit, klinische Epidemiologie, Biostatistik und Umweltgesundheit durch. Link zum Vorstellungsvideo
Als Mutter zweier Teenager-Mädchen fragt sie sich heute, ob es für die Sicherheit der HPV-Impfung schon genügend Evidenz gebe. Antworten fand sie beim unabhängigen Forschungsnetzwerk Cochrane, das sich ganz der Evidenz verschrieben hat. Es sieht gut aus für die HPV-Impfung.
Eine systematische Übersichtsarbeit gilt zum heutigen Standpunkt als Studiendesign der Wahl um einschätzen zu können, welche Therapie wirkt oder nicht. Mit ihrer Suche nach den verlässlichsten Studien, tragen die Informations-Spezialistinnen Doris Kopp und Beatrice sowohl zur Behandlungssicherheit bei Patienten als auch zu einem allgemein besseren Gesundheitswissen bei.
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Autorin

Tanya Karrer
Expertinnen UniBe

Doris Kopp & Beatrice Minder
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Der begehrte Ritter
Allgemein
Ein Projektteam der Universität Bern arbeitet an einer Neuedition des von Wolfram von Eschenbach gedichteten Parzival-Romans. Die letzte Edition ist fast zwei Jahrhunderte alt und erfüllt die gegenwärtigen textkritischen Anforderungen nicht mehr.
Anika Ruppen | 01.01.2020
Handschrift Z Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 364 Vers 1.1
Parzival mag der wohl berühmteste Ritterheld der mittelalterlichen Literatur sein. Der zwischen 1200 und 1210 verfasste Roman ist in so vielen Textzeugen erhalten wie kein anderer der Gattung der Artusromane: Laut den Angaben der Projektwebsite (www.parzival.unibe.ch) sind sechzehn Handschriften, ein Druck und 72 Fragmente bekannt, die den Text überliefern. Der jüngste Fund, ein in Mainz vorzufindendes Fragment, wurde im Jahr 2019 gemacht. Dass weitere vollständige Handschriften entdeckt werden, ist heutzutage eher unwahrscheinlich. Fragmente aber – also Bruchstücke von Handschriften – können jederzeit in den Einbänden von lange nicht mehr benutzten Handschriften entdeckt werden. Grund dafür ist die so genannte Makulatur: Primär um 1500 wurden Handschriften mit wertlos gewordenen Texten zerschnitten und das daraus gewonnene, nach wie vor wertvolle und sehr stabile Pergament wiederverwendet. Zumeist fanden Schnipsel und Streifen aus ehemaligen Handschriften ihren Weg auf Einbände von neuen Handschriften und Drucken, wo sie die entsprechenden Materialien verstärken sollten. So bleiben unter Umständen Teile von Textzeugen Jahrhunderte lang in Einbänden von vornehmlich in Bibliotheken gelagerten Handschriften versteckt. Teils zufällig, teils nach spezifischer Suche, werden sie schliesslich wieder aufgespürt.
Handschrift R Bern, Burgerbibliothek, Cod. AA91 61v Vers 308.11
Meisterwerk mit Mängeln
Die bis heute nicht ersetzte Edition des Parzival von Karl Lachmann wurde 1833 veröffentlicht; in einer Zeit, als die Beschäftigung mit der volkssprachigen Dichtung des Mittelalters einen regelrechten Boom erlebte. Was seinerzeit als eine bemerkenswerte editorische Leistung galt, wird den heutigen Anforderungen aufgrund von Defiziten nicht mehr gerecht – die angewandte Methode ist nach heutigen Massstäben veraltet, basiert sie doch auf vergleichsweise wenigen Handschriften. Da sich die Zahl der Textzeugen seither beträchtlich vermehrt hat, wird ein Grossteil der heute bekannten Überlieferungsträger nicht genügend berücksichtigt.
„Die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie der Informatik und der Evolutionsbiologie bringen neuen Wind in das Fach.“
Zukunftsorientiertes Konzept
Im Jahr 2001 stellten sich Prof. Dr. Michael Stolz (damals noch Universität Basel, seit 2006 Universität Bern) und sein Forschungsteam der Herausforderung, eine kritische Neuausgabe des Parzival-Romans auszuarbeiten. Nebst einer geplanten Ausgabe in Buchform gehört auch ein Zugriff auf die Daten in elektronischer Form dazu. Als Grundlage wurden alle 89 Textzeugen transkribiert und Untersuchungen zu den Gruppierungen der Handschriften vorgenommen. «Zum grossen Vorteil der Herausgeber ist die Textgeschichte des Parzival bereits mehrfach und aus verschiedenen Perspektiven untersucht worden», erklärt Dr. des. Mirjam Geissbühler, die seit 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin Teil des Forschungsteams ist. So habe man im besten Fall eigene Untersuchungen auf frühere Forschungserkenntnisse stützen können. Innovative digitale Methoden würden jedoch völlig neue Möglichkeiten der Textaufbereitung und Analyse ermöglichen. Dank elektronischer Speicherverfahren öffnen sich beispielsweise neue Blicke auf die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Handschriften.
Handschrift R Bern, Burgerbibliothek, Cod. AA91 55v Vers 282.9
Präzision gewährleisten
Das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Projekt stösst auf breites Interesse. «Die aus dem Parzival-Projekt hervorgegangene digitale Datenbank ist für Forschende eine wahre Fundgrube», erklärt Geissbühler, die im Rahmen ihrer Dissertation intensiv mit der Datenbank gearbeitet hat. Sie untersuchte die sogenannte Handschrift L, die den Parzival zusammen mit weiteren Texten zu König Artus und zur mittelalterlichen Geschichte überliefert.
Die Komplexität der Thematik zeigt sich auch in der Laufzeit des Projekts. Nachdem in den ersten fünfzehn Jahren die Textzeugen transkribiert und zu einem auf vier Parallelversionen basierenden Editionstext weiterverarbeitet wurden, steht nunmehr die Revision des Textes im Vordergrund. «Einheitlichkeit in dieser aus der Pionierzeit der Digitalisierung stammenden Arbeit zu gewährleisten, ist eine grosse Herausforderung. Wir arbeiten mit grösster Sorgfalt», beschreibt Geissbühler die Relevanz dieser letzten Schritte. So fordert beispielsweise das an genaue Richtlinien geknüpfte Überprüfen des erstellten Editionstextes auf Einheitlichkeit die Konzentration und die Präzisionsarbeit des Forschungsteams aufs äusserste.
Handschrift O München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 18 1r Vers 3.25
Der Ruf der mittelalterlichen Literatur
Eine moderne Neuausgabe für die Wissenschaft sei nicht die einzige Bereicherung, die das Projekt darstellt. Auch der Auffrischung des etwas verstaubten Images der mittelalterlichen Literaturwissenschaft sei dabei gedient. «Die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie der Informatik und der Evolutionsbiologie bringen neuen Wind in das Fach», so Geissbühler. Wie die digitale Komponente in Zukunft aussehen werde, sei aufgrund der rasanten Entwicklung der Technologie noch ungewiss. Dementsprechend würden auch Lösungen für die nachhaltige Sicherung der Forschungsdaten gesucht. Doch vorerst darf sich die Altgermanistik auf eine Aufwertung ihrer Forschungswelt freuen – und auf eine neubeleuchtete Zukunft des nun für jedermann besser zugänglichen begehrten Ritters.
Autorin

Anika Ruppen
Expertin Universität Bern

Mirjam Geissbühler
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Das ewige Eis und der Meeresspiegel
Allgemein
2007 mahnte der Weltklimarat vor einem Abschmelzen der Eisschilder in Grönland und der Westantarktis. Ein Anstieg des Meeresspiegels zwischen vier und sechs Metern wäre die Folge. Dies in einem Zeitraum der nächsten Jahrhunderte, vielleicht auch erst Jahrtausende. Nun prophezeien Forscher der NGO Climate Central in ihrem neusten Statement vom November einen Anstieg um bis zu zwei Meter bereits für das Jahr 2100. Die berechneten Folgen der Erderwärmung haben sich innert kürzester Zeit in die nahe Zukunft verschoben und drohen die Menschheit nun in Form des Meeresspiegelanstiegs bereits in den kommenden Jahrzehnten zu treffen. Derweilen zeigt ein Blick in die Vergangenheit, wie fragil das Zusammenspiel zwischen Eis und Ozean ist.
Martin Zahno und Luisa M. | 01.01.2020
Ellsworth Mountain Range in der Antarktis (Image by skeeze from Pixabay)
Ein Anstieg von einem oder auch zwei Metern hört sich erstmal nicht nach viel an. Und dennoch: Steigt der Meeresspiegel weiter so rasant an, dann werden die Folgen drastisch und bereits in naher Zukunft spürbar sein. Dies betont auch Horst Machguth, Professor für Glaziologie an der Universität Freiburg: „Gepaart mit Sturmfluten kann ein solch neues Meeresspiegellevel zu Hochwasserkatastrophen führen.“ Solche Extremereignisse treten laut den neuesten Berechnungen durch die vergrösserte Wassermenge nicht nur verstärkt, sondern vor allem viel regelmässiger auf. „Gebiete, welche bis weit ins Landesinnere kaum oberhalb des Meeresspiegels liegen, laufen Gefahr, von solchen Fluten getroffen zu werden“, so Machguth weiter. Länder wie Vietnam, Bangladesch oder die Niederlande, aber auch Städte wie Jakarta, Mumbai oder Venedig würden somit bereits in den kommenden Jahrzehnten verstärkt mit Sturmfluten konfrontiert werden. Solche Szenarien wurden von Forschern weltweit bereits in den vergangenen Jahrzehnten prophezeit. Der Zeitraum, in welchen es zu solchen verheerenden Extremereignisse kommen könnte, hat sich nun jedoch deutlich näher zur Gegenwart verschoben. Es handelt sich nicht mehr um Jahrtausende. So geht der Weltklimarat in seinem neusten Bericht vom September 2019 davon aus, dass der Anstieg des Meeresspiegels von sechs Metern bereits im Jahre 2300 erreicht sein könnte. Ein solches Szenario würde jeden der knapp 700 Millionen Küstenbewohner der Welt vor erhebliche Probleme stellen. Grosse Gebiete könnten so permanent unbewohnbar werden. Die Folgen des Meeresspiegelanstieges können somit bereits für die absehbare Zukunft als durchaus bedrohlich angesehen werden. Ebenso bedenklich ist die Situation, wenn man sich mit den Gründen dieses Phänomens auseinandersetzt.
Eisschild in der Antarktis (Image by David Mark from Pixabay)
Woher stammt dieser erhöhte Anstieg?
Um die Gründe für diese neuen Szenarien verstehen zu können, muss man zuerst zwischen Gletschern und Eisschildern unterscheiden. Mit Eisschildern sind die riesigen Eismassen gemeint, welche auf Grönland und in der Antarktis gebunden sind. Obwohl die Gletscherschmelze an sich nur ein geringes Potenzial hat, den Meeresspiegel ansteigen zu lassen, zeigt sich: Rund die Hälfte des Eises, das auf der Welt schmilzt, stammt momentan von Gletschern. „Dies liegt vor allem an der grossen Oberfläche der weltweiten Gletscher“, so Machguth. Die Ablation, bzw. das Schmelzen des Eises, findet in erster Linie an der Oberfläche der Eismasse statt. „Nachhaltig ist dies jedoch nicht“, erläutert der Glaziologe weiter. „Zum Zeitpunkt, an dem der Grossteil der Gletscher weggeschmolzen ist, wird immer noch viel Eis in der Arktis übrig sein, welches noch lange für einen weiter steigenden Meeresspiegel sorgen wird.“ Auch die Ablation der Gletscher auf Grönland hat sich in den vergangenen Jahren mehr verstärkt als man in den Berichten von 2007 angenommen hat.
„Rund die Hälfte des Eises, das auf der Welt schmilzt, stammt momentan von Gletschern.“
Schon jetzt trägt der Grönländische Eisschild einen beträchtlichen Teil zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Deutlich mehr als jenes Eis, welches momentan in der Antarktis gebunden ist. „Die Gründe sind verschieden“, erklärt Machguth, „zum einen liegen grosse Teile Grönlands weit im Süden und zum anderen ist es wichtig zu verstehen, dass es in der Arktis deutlich wärmer ist als am Südpol.“ Dies ist laut dem Glaziologen unter anderem darauf zurückzuführen, dass Grönland von grossen Landmassen umgeben ist. Die Antarktis ihrerseits hat durch ihre von Ozeanen umgebene Lage ein eigenes Klimasystem, in welchem auch in den Sommermonaten Temperaturen unter dem Gefrierpunkt herrschen.
WIBLO Infografik von Luisa M.
Die Antarktis als Risikofaktor
Dass die Antarktis jedoch alles andere als ein stabiles System ist, lässt ein Blick in die Vergangenheit vermuten. Zwischen den letzten beiden Eiszeiten erhöhte sich der globale Meeresspiegel innerhalb der relativ kurzen Zeit von rund 1000 Jahren um bis zu neun Meter und lag phasenweise fünf Meter über dem heutigen Level. Dieser abrupte Anstieg sei nicht allein auf eine schnelle Schmelze zurückzuführen, argumentiert Machguth: „Dieses Ereignis stand mit grosser Wahrscheinlichkeit in Verbindung mit enormen Kalbungs-Events in der Westantarktis.“ Beim sogenannten Kalben brechen ganze Eismassen vom Schild ab und treiben dann auf dem offenen Meer, bis sie schliesslich schmelzen.
Infobox Antarktis
Die geschätzte maximale Eisdicke in der Region Adélieland beträgt 4’776 Meter. Mit einer Oberfläche von rund 13,924 km2 ist die Antarktis flächenmässig grösser als die EU und rund 337 mal grösser als die Schweiz! Zudem herrschen in der Antarktis überdurchschnittlich starke Winde vor. Ganzjährige Windgeschwindkeiten von bis zu 300 km/h sind keine Seltenheit.
Bedrohlich ist dabei die Tatsache, dass in der Westantarktis grosse Teile des vorhandenen Eisschildes anders als in Grönland auf Land liegen, welches sich unterhalb des Meeresspiegels befindet. Falls sich die Westantarktis destabilisieren sollte, könnte eine subglaziale Schmelze die Folge sein. Die Konsequenz einer solchen subglazialen Schmelze sowie der mechanischen Destabilisierung wäre das schnelle Kalben von enormen Massen von Eis. Bei einem Meeresspiegelanstiegspotenzial der Westantarktis von sieben Metern eine bedrohliche Vorstellung. „Solche Szenarien sind jedoch mit Vorsicht zu geniessen, da ein solch plötzliches Ereignis wiederum globale Phänomene wie beispielsweise die Meeresströmungen beeinflussen könnte, welche ihrerseits Auswirkungen auf das Klima haben“, erklärt Machguth.
Auch wenn die Folgen eines solchen Szenarios schwer abzuschätzen sind, sind die kurzfristigen Auswirkungen des Meeresspiegelanstieges schon heute erkennbar. Der Einfluss, welcher dieser Anstieg auf die gesamte Menschheit haben wird, wird nun langsam ersichtlich und spürbar. Folgen eines Prozesses, den man kaum mehr aufhalten, sondern höchstens noch eindämmen kann.
Ellsworth Mountain Range in der Antarktis (Image by skeeze from Pixabay)
Ein Anstieg von einem oder auch zwei Metern hört sich erstmal nicht nach viel an. Und dennoch: Steigt der Meeresspiegel weiter so rasant an, dann werden die Folgen drastisch und bereits in naher Zukunft spürbar sein. Dies betont auch Horst Machguth, Professor für Glaziologie an der Universität Freiburg: „Gepaart mit Sturmfluten kann ein solch neues Meeresspiegellevel zu Hochwasserkatastrophen führen.“ Solche Extremereignisse treten laut den neuesten Berechnungen durch die vergrösserte Wassermenge nicht nur verstärkt, sondern vor allem viel regelmässiger auf. „Gebiete, welche bis weit ins Landesinnere kaum oberhalb des Meeresspiegels liegen, laufen Gefahr, von solchen Fluten getroffen zu werden“, so Machguth weiter. Länder wie Vietnam, Bangladesch oder die Niederlande, aber auch Städte wie Jakarta, Mumbai oder Venedig würden somit bereits in den kommenden Jahrzehnten verstärkt mit Sturmfluten konfrontiert werden. Solche Szenarien wurden von Forschern weltweit bereits in den vergangenen Jahrzehnten prophezeit. Der Zeitraum, in welchen es zu solchen verheerenden Extremereignisse kommen könnte, hat sich nun jedoch deutlich näher zur Gegenwart verschoben. Es handelt sich nicht mehr um Jahrtausende. So geht der Weltklimarat in seinem neusten Bericht vom September 2019 davon aus, dass der Anstieg des Meeresspiegels von sechs Metern bereits im Jahre 2300 erreicht sein könnte. Ein solches Szenario würde jeden der knapp 700 Millionen Küstenbewohner der Welt vor erhebliche Probleme stellen. Grosse Gebiete könnten so permanent unbewohnbar werden. Die Folgen des Meeresspiegelanstieges können somit bereits für die absehbare Zukunft als durchaus bedrohlich angesehen werden. Ebenso bedenklich ist die Situation, wenn man sich mit den Gründen dieses Phänomens auseinandersetzt.
Eisschild in der Antarktis (Image by David Mark from Pixabay)
Um die Gründe für diese neuen Szenarien verstehen zu können, muss man zuerst zwischen Gletschern und Eisschildern unterscheiden. Mit Eisschildern sind die riesigen Eismassen gemeint, welche auf Grönland und in der Antarktis gebunden sind. Obwohl die Gletscherschmelze an sich nur ein geringes Potenzial hat, den Meeresspiegel ansteigen zu lassen, zeigt sich: Rund die Hälfte des Eises, das auf der Welt schmilzt, stammt momentan von Gletschern. „Dies liegt vor allem an der grossen Oberfläche der weltweiten Gletscher“, so Machguth. Die Ablation, bzw. das Schmelzen des Eises, findet in erster Linie an der Oberfläche der Eismasse statt. „Nachhaltig ist dies jedoch nicht“, erläutert der Glaziologe weiter. „Zum Zeitpunkt, an dem der Grossteil der Gletscher weggeschmolzen ist, wird immer noch viel Eis in der Arktis übrig sein, welches noch lange für einen weiter steigenden Meeresspiegel sorgen wird.“ Auch die Ablation der Gletscher auf Grönland hat sich in den vergangenen Jahren mehr verstärkt als man in den Berichten von 2007 angenommen hat.
„Rund die Hälfte des Eises, das auf der Welt schmilzt, stammt momentan von Gletschern.“
Schon jetzt trägt der Grönländische Eisschild einen beträchtlichen Teil zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Deutlich mehr als jenes Eis, welches momentan in der Antarktis gebunden ist. „Die Gründe sind verschieden“, erklärt Machguth, „zum einen liegen grosse Teile Grönlands weit im Süden und zum anderen ist es wichtig zu verstehen, dass es in der Arktis deutlich wärmer ist als am Südpol.“ Dies ist laut dem Glaziologen unter anderem darauf zurückzuführen, dass Grönland von grossen Landmassen umgeben ist. Die Antarktis ihrerseits hat durch ihre von Ozeanen umgebene Lage ein eigenes Klimasystem, in welchem auch in den Sommermonaten Temperaturen unter dem Gefrierpunkt herrschen.
WIBLO Infografik von Luisa M.
Dass die Antarktis jedoch alles andere als ein stabiles System ist, lässt ein Blick in die Vergangenheit vermuten. Zwischen den letzten beiden Eiszeiten erhöhte sich der globale Meeresspiegel innerhalb der relativ kurzen Zeit von rund 1000 Jahren um bis zu neun Meter und lag phasenweise fünf Meter über dem heutigen Level. Dieser abrupte Anstieg sei nicht allein auf eine schnelle Schmelze zurückzuführen, argumentiert Machguth: „Dieses Ereignis stand mit grosser Wahrscheinlichkeit in Verbindung mit enormen Kalbungs-Events in der Westantarktis.“ Beim sogenannten Kalben brechen ganze Eismassen vom Schild ab und treiben dann auf dem offenen Meer, bis sie schliesslich schmelzen.
Infobox Antarktis
Die geschätzte maximale Eisdicke in der Region Adélieland beträgt 4’776 Meter. Mit einer Oberfläche von rund 13,924 km2 ist die Antarktis flächenmässig grösser als die EU und rund 337 mal grösser als die Schweiz! Zudem herrschen in der Antarktis überdurchschnittlich starke Winde vor. Ganzjährige Windgeschwindkeiten von bis zu 300 km/h sind keine Seltenheit.
Bedrohlich ist dabei die Tatsache, dass in der Westantarktis grosse Teile des vorhandenen Eisschildes anders als in Grönland auf Land liegen, welches sich unterhalb des Meeresspiegels befindet. Falls sich die Westantarktis destabilisieren sollte, könnte eine subglaziale Schmelze die Folge sein. Die Konsequenz einer solchen subglazialen Schmelze sowie der mechanischen Destabilisierung wäre das schnelle Kalben von enormen Massen von Eis. Bei einem Meeresspiegelanstiegspotenzial der Westantarktis von sieben Metern eine bedrohliche Vorstellung. „Solche Szenarien sind jedoch mit Vorsicht zu geniessen, da ein solch plötzliches Ereignis wiederum globale Phänomene wie beispielsweise die Meeresströmungen beeinflussen könnte, welche ihrerseits Auswirkungen auf das Klima haben“, erklärt Machguth.
Auch wenn die Folgen eines solchen Szenarios schwer abzuschätzen sind, sind die kurzfristigen Auswirkungen des Meeresspiegelanstieges schon heute erkennbar. Der Einfluss, welcher dieser Anstieg auf die gesamte Menschheit haben wird, wird nun langsam ersichtlich und spürbar. Folgen eines Prozesses, den man kaum mehr aufhalten, sondern höchstens noch eindämmen kann.
Autor

Martin Zahno
Illustratorin

Luisa Morell
Experte Universität Freiburg
