Dachse treten in die Fussstapfen der Stadtfüchse
Ein eher unerwarteter Bewohner der Siedlungsgebiete ist der Dachs. Der scheue Meister Grimbart lässt sich nur selten direkt beobachten; vielleicht auch, weil Dachse vor allem in der zweiten Nachthälfte unterwegs sind. Trotz ihrer heimlichen Lebensweise finden sich Dachse auch gut in menschlich geprägten Lebensräumen zurecht.
Madeleine Geiger und Anouk-Lisa Taucher | 31.03.2022
Stadtdachs, Foto von Peter Clayton
Wenn sich die Menschen in den Städten «Gute Nacht» sagen oder schon lange friedlich schlummern, dann kommen die nachtaktiven Stars aus ihren Verstecken: Igel, Fuchs und Dachs erobern Wohnungssiedlungen. Die Bevölkerung in der Schweiz wächst stetig und schweizweit leben rund 85 % aller Menschen in Städten – Tendenz steigend. Die menschliche Besiedelung verändert Gebiete, in denen sie gebaut wurden, grundlegend. Darum ist die Verstädterung ein wichtiges Thema im Naturschutz und betrifft nicht zuletzt auch die Dachse.
Schlaraffenland Siedlungsgebiet
Städte bieten spezielle Lebensbedingungen. Häufige menschliche Störungen in Städten führen dazu, dass sich vor allem anpassungsfähige Arten dort niederlassen. Diese finden in Städten zwar weniger natürliche Nahrung, andererseits ist die Stadt ein Schlaraffenland an Nahrungsquellen, die vom Menschen stammen. Ausserdem kann der Siedlungsraum gewissen Arten als Ersatzlebensraum dienen. Felsenbrütende Vögel, wie Alpensegler, finden an Gebäuden geeignete Nistplätze.
Igel profitieren von vielfältigen Strukturen wie Hecken, Büschen und offenen Wiesenflächen in Wohnquartieren. Städte weisen auch ein deutlich wärmeres Klima auf als ihre Umgebung. So können ursprünglich aus dem Mittelmeerraum stammende Arten, wie die Südliche Eichenschrecke, auch Städte nördlich der Alpen besiedeln. Aus diesen Gründen zeichnen sich Städte durch eine erstaunlich hohe Biodiversität aus. Allein in der Stadt Zürich kommen hunderte Tierarten vor.
Allesfresser auf Futtertour
Unsere einheimischen Dachse (Meles meles) gehören zur Gruppe der Raubtiere (Carnivora). Die Art ist in ganz Europa und Teilen Vorderasiens verbreitet. Die Tiere werden bis zu 17 kg schwer, sind eher plump und gedrungen gebaut und sind durch die kontrastreiche, schwarz-weiss gestreifte „Dachsmaske“ (fast) unverwechselbar.
Dachse sind wahre Allesfresser und verzehren gerne Obst, Beeren und Getreide, aber auch Würmer, Insekten und grössere Tiere, wie zum Beispiel Amphibien. Die Spuren einer nächtlichen Dachstour kann man bisweilen im eigenen Garten entdecken, wenn die Tiere auf der Suche nach Würmern und Engerlingen den Rasen umgegraben haben. Andere Spuren der Dachse, die man gelegentlich entdecken kann, sind die sogenannten „Latrinen“. Dies sind flache Mulden in der Erde, die als Toilette benutzt werden.
Grabkünstler und Clan-Liebhaber
Die langen Krallen und kräftigen Gliedmassen sind die passenden Werkzeuge, um unterirdische Baue zu graben. Diese werden vor allem in Laubwäldern und Gehölzen angelegt und ständig erweitert, zum Teil über Generationen hinweg. So erreichen die Höhlensysteme mit Wohnkammern und mehreren Ein- und Ausgängen manchmal immense Ausmasse und ein stattliches Alter von mehreren hundert Jahren. Die Baue werden meistens von ganzen Familienverbänden (Clans) von bis zu einem Dutzend Dachsen bewohnt.
INFOBOX: Der Europäische Dachs
Besonders auffallend ist die kontrastreiche, schwarz-weisse Gesichtszeichnung des Dachses. Wegen seines massigen Körpers, den kurzen Beinen und dem kleinen Kopf wirkt er eher behäbig, obschon er bei Gefahr in den Galopp wechseln kann und über kurze Distanzen bis zu 30 km/h erreicht!
Kopf-Rumpflänge: 64-88 cm
Schwanzlänge: 11-18 cm,
Höchstalter: bis 16 Jahre
Gewicht: bis 17 kg
Alter: max. 16 Jahre
Quelle: Wildtier Schweiz
Bisher haben Forschende angenommen, dass Dachse, die vereinzelt in Städten beobachtet werden können, zu sogenannten Reliktpopulationen gehören. Mit anderen Worten, dass diese Dachse Überlebende von Clans sind, deren Lebensräume durch die wachsenden Städte eingeschlossen wurden. Denn obwohl sogenannte Stadtdachse z.B. aus England und Norwegen schon länger bekannt sind, beschränken sich ihre Baue meistens auf die Stadtrandgebiete.
Allerdings haben Beobachterinnen und Beobachter seit einigen Jahren vermehrt Dachs-Sichtungen über die Citizen Science Plattform StadtWildTiere gemeldet, und dies in vielen verschiedenen Schweizer Städten. Sogar in den dicht bebauten Stadtzentren kam es immer wieder zu nächtlichen Begegnungen mit Grimbart. Diese Beobachtungen passen nicht ganz ins Bild des Dachses als vornehmliches «Landei».
Immer mehr Dachs-Sichtungen
Im Rahmen des Projektes StadtWildTiere haben Forschende in einer Studie untersucht, ob die Dachse wirklich gerade im Begriff sind die Städte zu erobern. Dazu haben sie verschiedene Datengrundlagen hinzugezogen.
Zum einen haben die WildtierbiologInnen «Fallwild»-Daten ausgewertet, um herauszufinden, ob die Dachspopulation in der Schweiz im Allgemeinen und in der Stadt Zürich im Speziellen über die letzten Jahre hinweg zugenommen hat. Die auf Strassen verendeten Wildtiere gelten als «Fallwild» und die Daten dazu fliessen in die Eidgenössische Jagdstatistik, bzw. in die Datenbank des Stadtzürcher Wildschonreviers.
Je häufiger eine Tierart in einem Gebiet ist, desto häufiger sind Individuen dieser Art in Verkehrsunfälle verwickelt. Diesen Daten nach hat die Anzahl Dachse unter den Verkehrsopfern in den Jahren 1992 – 2015 (Schweiz) und 1996 – 2017 (Stadt Zürich) signifikant zugenommen. Bis ins Jahr 2015 hat sich die Zahl der Dachse in der Schweiz sogar verdoppelt.
In die Falle getappt
Als zweite Grundlage wurden Daten von Fotofallen ausgewertet, die Bilder aufnehmen, sobald deren Infrarotsensoren eine Bewegung registrieren. Für diese Untersuchung haben die Forschenden Ergebnisse von verschiedenen Fotofallen-Studien aus Zürich und St. Gallen nach Nachweisen von Dachsen durchsucht. Die Frage hierbei war, ob es in jüngeren Jahren mehr Dachsnachweise gegeben hat als in früheren Jahren. Diese Zahlen zeigten klar, dass sich in der Stadt Zürich zwischen den Jahren 1997 und 2014 und in der Stadt St. Gallen zwischen den Jahren 2008 und 2016 die relative Anzahl Fotofallenstandorte, an denen Dachse nachgewiesen werden konnten, mehr als verdreifacht haben.
Als dritte Datengrundlage haben die Wildtierbiologinnen und -biologen zufällige Dachsbeobachtungen in der Stadt Zürich zwischen 1986 und 1995 und zwischen 2008 und 2017 miteinander verglichen. Die Beobachtungen stammten von Wildhütern und von der Bevölkerung der Stadt Zürich (Online-Meldeplattform StadtWildTiere). Die Frage hierbei war, wo die Beobachtenden im Stadtgebiet Dachse gesichtet hatten und ob sich die Verteilung im Laufe der Zeit verändert hat. Diese Vergleiche zeigten, dass Dachs-Beobachtungen in den 1980er und 1990er Jahren vor allem auf Stadtrandgebiete in Waldnähe beschränkt waren. In späteren Jahren waren Dachse im Gegensatz dazu über das gesamte Stadtgebiet verteilt und wurden sogar im Stadtzentrum beobachtet.
Unterschiedliche Daten, aber das gleiche Bild
Die Forschenden haben diese Daten mit sehr unterschiedlichen Methoden erhoben und dennoch ergeben sie alle dasselbe Bild: Dachse werden in der Schweiz häufiger, insbesondere in den Städten. Die bereits bekannten Dachsvorkommen in den Städten Europas sind also wahrscheinlich nicht nur überlebende Relikte einer vergangenen, weniger städtisch geprägten Zeit, sondern prosperierende und wachsende Populationen, ähnlich den mittlerweile so gut bekannten Stadtfuchspopulationen.
„Die Spuren einer nächtlichen Dachstour kann man bisweilen im eigenen Garten entdecken, wenn die Tiere auf der Suche nach Würmern und Engerlingen den Rasen umgegraben haben.“
Objektiv betrachtet ist eine solche Entwicklung wenig verwunderlich. Ähnlich wie Füchse sind Dachse anpassungsfähige Allesfresser und flexibel bezüglich Streifgebiet und Gruppenorganisation. Diese Eigenschaften sind vorteilhafte (Vor-)Anpassungen an ein Leben im sich schnell verändernden städtischen Lebensraum. Die Entwicklung einer gewissen Zahmheit, also das Fehlen grosser Scheu gegenüber dem Menschen, ist dann alles, was der Dachs noch braucht, um sich diesen neuen, ständig wachsenden Lebensraum zunutze zu machen.
Füchse waren schneller
Angesichts dieser Eignung des Dachses für ein Leben im städtischen Lebensraum stellt sich allerdings auch die Frage, wieso Füchse im Vergleich zu Dachsen so viel früher urbane Lebensräume besetzten und ihre Populationen so viel schneller wuchsen. Die Gründe dafür dürften vielschichtig sein: Zum einen pflanzen sich junge Dachse, verglichen mit Füchsen, später im Leben zum ersten Mal fort und gebären pro Wurf weniger Junge. Dies trägt möglicherweise zum kleineren Wachstumspotential der Dachspopulationen bei. Zum anderen sind Dachse stärker an ihre Baue gebunden als Füchse, was die Flexibilität der Dachse einschränken kann.
Es wäre spannend das neue Phänomen Stadtdachse noch weiter zu erforschen. Es stellen sich zum Beispiel folgende Fragen: Bestehen die städtischen Dachspopulationen vor allem aus Tieren aus den umliegenden ländlichen Gebieten, die immer wieder in die städtischen Gebiete einwandern? Oder sind die städtischen Dachspopulationen sich selbsterhaltende und von den umliegenden ländlichen Populationen relativ gut isolierte Einheiten, ähnlich wie die städtischen Fuchspopulationen?
Charisma versus Grabschäden
Ebenfalls ungeklärt ist, wie sich das vermehrte Dachsvorkommen auf den Menschen und andere Tiere der Städte auswirkt. Zum einen ist der Dachs eine charismatische Tierart, die mithelfen kann, das allgemeine Interesse der Stadtbevölkerung an der Natur zu wecken und zu stärken. Denn der Kontakt mit der Natur ist nicht nur wichtig für die menschliche Gesundheit, die Erholung und das Wohlbefinden, sondern fördert auch positive Gefühle, konstruktives Verhalten und eine zusagende Einstellung gegenüber der Natur.
Zum anderen haben Dachse einen Einfluss auf das urbane Ökosystem. Beispielsweise dienen die Baue der Dachse auch anderen Tieren, wie z.B. Füchsen als Lebensraum. Ein erhöhtes Dachsvorkommen in städtischen Gebieten kann für andere Bewohner auch Herausforderungen mit sich bringen. Erwähnt seien hier etwa das erhöhte Potential für Grabschäden in Gärten sowie als Futterkonkurrent anderer städtischer Wildtiere.
Sollten Sie zukünftig jedoch zu den glücklichen Stadtbewohnerinnen oder Stadtbewohnern gehören, welche nachts die Silhouette eines Dachs erblicken, so wissen Sie spätestens jetzt Bescheid, dass Ihnen dies durchaus auch in städtischem Gebiet geschehen kann. Zumindest an der Grösse des Dachses sollte es grundsätzlich nicht scheitern, wiegt dieser doch bis zu dreimal so viel wie ein ausgewachsener Fuchs.
Dieser Artikel wurde basierend auf dem „Fauna Focus“ Nr. 58 Bericht von Wildtier Schweiz in verkürzter Form für WIBLO geschrieben:
Heftreihe Fauna Focus