Der begehrte Ritter

Ein Projektteam der Universität Bern arbeitet an einer Neuedition des von Wolfram von Eschenbach gedichteten Parzival-Romans. Die letzte Edition ist fast zwei Jahrhunderte alt und erfüllt die gegenwärtigen textkritischen Anforderungen nicht mehr.

Anika Ruppen | 01.01.2020

Handschrift Z Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 364 Vers 1.1

Parzival mag der wohl berühmteste Ritterheld der mittelalterlichen Literatur sein. Der zwischen 1200 und 1210 verfasste Roman ist in so vielen Textzeugen erhalten wie kein anderer der Gattung der Artusromane: Laut den Angaben der Projektwebsite (www.parzival.unibe.ch) sind sechzehn Handschriften, ein Druck und 72 Fragmente bekannt, die den Text überliefern. Der jüngste Fund, ein in Mainz vorzufindendes Fragment, wurde im Jahr 2019 gemacht. Dass weitere vollständige Handschriften entdeckt werden, ist heutzutage eher unwahrscheinlich. Fragmente aber – also Bruchstücke von Handschriften – können jederzeit in den Einbänden von lange nicht mehr benutzten Handschriften entdeckt werden. Grund dafür ist die so genannte Makulatur: Primär um 1500 wurden Handschriften mit wertlos gewordenen Texten zerschnitten und das daraus gewonnene, nach wie vor wertvolle und sehr stabile Pergament wiederverwendet. Zumeist fanden Schnipsel und Streifen aus ehemaligen Handschriften ihren Weg auf Einbände von neuen Handschriften und Drucken, wo sie die entsprechenden Materialien verstärken sollten. So bleiben unter Umständen Teile von Textzeugen Jahrhunderte lang in Einbänden von vornehmlich in Bibliotheken gelagerten Handschriften versteckt. Teils zufällig, teils nach spezifischer Suche, werden sie schliesslich wieder aufgespürt.

Handschrift R Bern, Burgerbibliothek, Cod. AA91 61v Vers 308.11

Meisterwerk mit Mängeln

Die bis heute nicht ersetzte Edition des Parzival von Karl Lachmann wurde 1833 veröffentlicht; in einer Zeit, als die Beschäftigung mit der volkssprachigen Dichtung des Mittelalters einen regelrechten Boom erlebte. Was seinerzeit als eine bemerkenswerte editorische Leistung galt, wird den heutigen Anforderungen aufgrund von Defiziten nicht mehr gerecht – die angewandte Methode ist nach heutigen Massstäben veraltet, basiert sie doch auf vergleichsweise wenigen Handschriften. Da sich die Zahl der Textzeugen seither beträchtlich vermehrt hat, wird ein Grossteil der heute bekannten Überlieferungsträger nicht genügend berücksichtigt.

„Die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie der Informatik und der Evolutionsbiologie bringen neuen Wind in das Fach.“

Zukunftsorientiertes Konzept

Im Jahr 2001 stellten sich Prof. Dr. Michael Stolz (damals noch Universität Basel, seit 2006 Universität Bern) und sein Forschungsteam der Herausforderung, eine kritische Neuausgabe des Parzival-Romans auszuarbeiten. Nebst einer geplanten Ausgabe in Buchform gehört auch ein Zugriff auf die Daten in elektronischer Form dazu. Als Grundlage wurden alle 89 Textzeugen transkribiert und Untersuchungen zu den Gruppierungen der Handschriften vorgenommen. «Zum grossen Vorteil der Herausgeber ist die Textgeschichte des Parzival bereits mehrfach und aus verschiedenen Perspektiven untersucht worden», erklärt Dr. des. Mirjam Geissbühler, die seit 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin Teil des Forschungsteams ist. So habe man im besten Fall eigene Untersuchungen auf frühere Forschungserkenntnisse stützen können. Innovative digitale Methoden würden jedoch völlig neue Möglichkeiten der Textaufbereitung und Analyse ermöglichen. Dank elektronischer Speicherverfahren öffnen sich beispielsweise neue Blicke auf die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Handschriften.

Handschrift R Bern, Burgerbibliothek, Cod. AA91 55v Vers 282.9

Präzision gewährleisten

Das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Projekt stösst auf breites Interesse. «Die aus dem Parzival-Projekt hervorgegangene digitale Datenbank ist für Forschende eine wahre Fundgrube», erklärt Geissbühler, die im Rahmen ihrer Dissertation intensiv mit der Datenbank gearbeitet hat. Sie untersuchte die sogenannte Handschrift L, die den Parzival zusammen mit weiteren Texten zu König Artus und zur mittelalterlichen Geschichte überliefert.

Die Komplexität der Thematik zeigt sich auch in der Laufzeit des Projekts. Nachdem in den ersten fünfzehn Jahren die Textzeugen transkribiert und zu einem auf vier Parallelversionen basierenden Editionstext weiterverarbeitet wurden, steht nunmehr die Revision des Textes im Vordergrund. «Einheitlichkeit in dieser aus der Pionierzeit der Digitalisierung stammenden Arbeit zu gewährleisten, ist eine grosse Herausforderung. Wir arbeiten mit grösster Sorgfalt», beschreibt Geissbühler die Relevanz dieser letzten Schritte. So fordert beispielsweise das an genaue Richtlinien geknüpfte Überprüfen des erstellten Editionstextes auf Einheitlichkeit die Konzentration und die Präzisionsarbeit des Forschungsteams aufs äusserste.

Handschrift O München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 18 1r Vers 3.25

Der Ruf der mittelalterlichen Literatur

Eine moderne Neuausgabe für die Wissenschaft sei nicht die einzige Bereicherung, die das Projekt darstellt. Auch der Auffrischung des etwas verstaubten Images der mittelalterlichen Literaturwissenschaft sei dabei gedient. «Die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie der Informatik und der Evolutionsbiologie bringen neuen Wind in das Fach», so Geissbühler. Wie die digitale Komponente in Zukunft aussehen werde, sei aufgrund der rasanten Entwicklung der Technologie noch ungewiss. Dementsprechend würden auch Lösungen für die nachhaltige Sicherung der Forschungsdaten gesucht. Doch vorerst darf sich die Altgermanistik auf eine Aufwertung ihrer Forschungswelt freuen – und auf eine neubeleuchtete Zukunft des nun für jedermann besser zugänglichen begehrten Ritters.

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Autorin

Anika Ruppen

Expertin Universität Bern

Mirjam Geissbühler

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