Salutogenese: Die Gesundheitsentstehung
Warum werden manche Menschen unter Einfluss von ausserordentlichem Stress krank, andere bleiben gesund? Es ist ein äusserst faszinierendes und allgegenwärtiges Thema: Die Entstehung von Gesundheit. Denn woher kommt eigentlich Gesundheit und kann man die sogenannte Salutogenese gar positiv beeinflussen? Diverse Studien mit Hebammen zeigen: Ja, sie können!
Mira Humble | 06.06.2020
Foto von Emiel Molenaar auf Unsplash
Stunden sind vergangen seit die Wehen eingesetzt haben. Stunden verbringen die werdende Mutter und ihre Geburtsbegleiterin zusammen. Dann endlich, eine letzte Wehe, eine letzte Anstrengung und dann ist es da, das Kind. Und schreit. Ein wortwörtlich einschneidendes Erlebnis und eines, das die Spezialisten an der Seite der Gebärenden positiv beeinflussen können. Dies belegen Forschungsergebnisse der Schweizer Expertin Prof. Claudia Meier Magistretti von der Hochschule Luzern.
Der Kohärenzsinn oder was macht überhaupt Sinn?
«Es ist unsere Aufgabe, die Kraft der Frau zu mobilisieren und sie in Kontakt zu bringen mit ihrer elementaren Kraft, zu gebären, ihr mitzugeben, dass sie dieser Kraft vertrauen kann … und dass Geburt sogar einen tieferen Sinn haben kann.» (Meier Magistretti 2019, S. 123). In nur einem Satz hat Hebamme Endres [1] mehrere Dimensionen des sogenannten «Sense of Coherence» erwähnt und somit gezeigt, dass sie nach den Prinzipien der Salutogenese handelt. Der Sense of Coherence – zu Deutsch Kohärenzsinn und im Folgenden als SOC bezeichnet– setzt sich zusammen aus den drei Faktoren: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit.
„Die Salutogenese ergänzt und bildet einen Gegenpol zur Lehre der Pathogenese, welche sich mit der Entstehung von Krankheit beschäftigt.“
In diesem Kontext kann Verstehbarkeit definiert sein als Wissen um den Prozess der Geburt und somit einer höheren Gewissheit, was einen erwarten wird. Handhabbarkeit bedeutet zum Beispiel, Ressourcen zu besitzen, um sich der Herausforderung der Geburt zu stellen. In diesem Fall ist die Ressource die elementare Kraft, welche der Mutter innewohnt. Die Geburt als sinnvoll oder sogar mit einem tieferen Sinn zu verstehen, deckt den Faktor der Bedeutsamkeit ab.
Unterschiedliche Stressresistenz
Die variierende Stärke des SOC bei verschiedenen Menschen erklärt, warum diese unterschiedlich auf Stress und einschneidende Lebensereignisse reagieren. Lange Zeit wurde vermutet, dass der SOC nicht aktiv von aussen beeinflusst werden kann und ab dem 30. Lebensjahr konstant bleibt. Die Forschung von Prof. Meier Magistretti zeigt nun jedoch ein anderes Bild.
Optimale Forschungsbedingungen im «Kreisssaal»
Das Thema Geburt und Schwangerschaftsbegleitung bietet sich sehr gut für die Erforschung der Salutogenese an, da es zuvor bereits bekannt war, dass positive Geburtserlebnisse den SOC stärken können. «Auch Nachbarschaftshilfe oder Psychotherapie können den SOC stärken», erklärt die Expertin. Schwerpunkt ihrer Forschung ist der «Sense FOR Coherence» – zu Deutsch Sinn für Kohärenz –, also die Fähigkeit, den SOC anderer positiv zu beeinflussen.
Infobox: Auf den Spuren der Salutogenese
Das Konzept der Salutogenese wurde in den 1970er-Jahren von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky eingeführt. Antonovsky führte eine Studie an Frauen in der Menopause durch. Er verglich dabei zwei Gruppen von Frauen: Die eine Gruppe hatte im Laufe ihres Lebens extremen Stress erlebt und einige darunter hatten sogar den Holocaust überlebt. Die Frauen der Kontrollgruppe hatten ein «normales» Leben geführt. Beim Vergleich der beiden Gruppen fiel auf, dass 29 Prozent der Frauen, welche im Leben extremen Stress erfahren mussten, sich aller Widrigkeiten zum Trotz in einem guten psychischen Zustand befanden. Der Soziologe war fasziniert von diesem Sachverhalt. Aus der Fragestellung, wie Gesundheit entsteht und erhalten bleibt, entwickelte er das Konzept der Salutogenese. Sie ergänzt und bildet einen Gegenpol zur Lehre der Pathogenese, welche sich mit der Entstehung von Krankheit beschäftigt.
Es wird vermutet, dass das «Setting», also die Arbeitsumgebung, einen Einfluss auf die Beratungsform von Hebammen hat. So verhalten sich Hebammen oder Ärzte im Krankenhaus mehrheitlich, aber nicht ausschliesslich, anders als Hebammen im Geburtshaus oder bei einer Hausgeburt.
Im Fokus: Risiken und Angst
Prof. Meier Magistrettis Forschung hat ergeben, dass sich Fachkräfte im klinischen Kontext meist hauptsächlich auf die Dimension der Verstehbarkeit konzentrieren. «Dann muss ich sagen, mache ich mir da gar keine Sorgen um Sie. Das ist halt wie bei jeder Schwangeren, es ist eine Momentaufnahme, wie immer im Leben» (Meier Magistretti 2019, S. 127), sagt Frauenärztin Freivogel [1] zu ihrer Patientin. Die Fachpersonen konzentrieren sich auf mögliche Risiken und Angstreduktion. Die wichtigen Aspekte der Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit fehlen meist komplett.
Auf Kosten der Gesundheit der Spezialisten
Dabei gibt es einige Ausnahmen. Manche Ärzte und Ärztinnen wenden eine Mischform der klinischen und der salutogenen Behandlung an. Diesen Fachpersonen geht es aber oft psychisch schlechter. Wahrscheinlich, weil sie sich zusätzlich zur besser bezahlten medizinischen Untersuchung psychologische Arbeit aufladen. Das kann dann zu Stress führen.
Dabei haben Studien ergeben, dass Geburten im Krankenhaus, im Geburtshaus oder Hausgeburten gleich sicher für Mutter und Kind sind. Vorausgesetzt, es handelt sich um eine Schwangerschaft ohne Risikofaktoren. Bleibt nur noch, dass Mütter bei Komplikationen im Notfall kurzfristig ins Krankenhaus gefahren werden müssen. Dies kann, bei einer schlechten Begleitung dieser Frauen, einen gefühlten Kontrollverlust bedeuten.
Entweder, oder?
Wäre es nicht das Ideal, beide Welten zusammen zu führen? «Das wird die Zukunft sein», sagt Prof. Meier Magistretti. «Nach einer positiv erlebten Geburt kommt es zu weniger postpartalen Depressionen. Nicht evidenzbasierte Behandlungsmethoden, die als Standardprozedur durchgeführt werden und oft mehr verunsichern als helfen, fallen dann idealerweise weg.» Ansätze hierfür sind salutogene Spitäler und die Initiativen «too much medicine» in Grossbritannien oder «avoiding avoidable care» in den USA.
Der nationale Kohärenzsinn
Übrigens spielt Salutogenese auch in Zeiten vom neuen Coronavirus eine wichtige Rolle und beeinflusst, wie gut wir mit Einschränkungen wie dem «social distancing» umgehen können. Gemeinsam mit der «Global Working Group of Salutogenesis» hat die Professorin herausgefunden, dass nicht nur der individuelle SOC massgebend ist, sondern auch der sogenannte «Sense of National Coherence», also der SOC bezogen auf eine ganze Nation. Dieser wird zum Beispiel durch das Vertrauen in die jeweilige Regierung geprägt. Wenn wir verstehen, warum wir keine Partys mehr geben dürfen und warum das Home-Office für alle derzeit am sichersten ist, dann trägt das zu einer besseren psychischen Befindlichkeit bei.
Auch auf andere Weise wird der SOC gestärkt: Es ist jetzt wieder salonfähig, über Belastung zu reden. Mithilfe von Briefaktionen oder Nachbarschaftshilfe schaffen sich die Menschen ihr eigenes Supportsystem und verbessern somit die Aspekte der Bedeutsamkeit und Handhabbarkeit. Wer weiss, vielleicht gehen wir sogar gestärkt und mit einem höheren SOC aus der Coronakrise hervor – ganz analog zum Erlebnis der positiven Geburt.
[1] Namen geändert
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