Wie viel Plastik schwimmt im Genfersee?

Plastikabfälle sind inzwischen ein Bestandteil fast aller Gewässer. Doch woher wissen wir überhaupt, wie viel es ist und was zieht deren Existenz für Konsequenzen nach sich? Um Forschung zu betreiben und fundierte Aussagen machen zu können, braucht es Daten. Zwei Genfer Wissenschaftler der Organisation Oceaneye haben sich diesem Thema nun angenommen.

Jael Bieri und Luisa Morell | 16.04.2020

Blick von Chexbres auf den Genfersee, Foto WIBLO 2019

In unseren Weltmeeren und Binnengewässern befinden sich Plastikabfälle – so viel ist bekannt. Wie viel Plastik das genau ist, ist momentan jedoch noch äusserst schwierig zu sagen. Pascal Hagman, Leiter der Genfer Organisation Oceaneye und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Gaël Potter haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Datenlage zu verbessern: «Zur Zeit unserer Gründung sprachen einige Journalisten von Müllwirbeln oder dem Plastikkontinent und solchen Dingen. Doch beim Blick in verschiedene Studien stellten wir fest, dass die Anzahl der Daten sehr limitiert ist, also haben wir die Forscher kontaktiert und eigentlich immer die gleiche Antwort erhalten: ‹Es besteht ein grosser Bedarf an Daten».

Oceaneye ist eine wissenschaftliche Organisation, die mit Seglern überall in der Welt Kontakt aufnimmt, um mehr über das Mikroplastik zu erfahren, das auf unseren Meeren treibt. Sie helfen den Freiwilligen, die Schiffe mit wissenschaftlichem Equipment auszustatten und lassen die Seefahrenden anschliessend auf ihren Routen Proben sammeln. Die Tests werden danach im Genfer Labor ausgewertet. Auf der Website von Oceaneye ist eine Weltkarte veröffentlicht, auf welcher der Verschmutzungsgrad der bereits untersuchten Gewässerzonen markiert ist.

Informieren ist essentiell

Die Information einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen gehört ebenfalls zum Konzept von Oceaneye. Auf ihrer Website betonen sie, dass die Weitergabe von Daten wichtig ist, um sich unter Wissenschaftlern auszutauschen und die Bevölkerung auf Problematiken hinzuweisen. Deshalb speisen sie ihre Erkenntnisse in die wissenschaftliche Datenbank GRID des Umweltprogramms der UNO ein, und betreiben verschiedene Projekte zur Sensibilisierung der Bevölkerung. Sie halten Vorträge an öffentliche Veranstaltungen, geben Unterricht in Schulen, führen eine Ausstellung über Kunststoffabfälle im Meer und stehen den Medien mit Fachwissen zur Verfügung.

Studie lanciert

Ab Anfang 2019 hat Oceaneye den Fokus auf ein lokales Gewässer umgeschwenkt und die Mengen von schwimmendem Mikroplastik im Genfersee untersucht. Pünktlich zur Badesaison wurde die Vorstudie veröffentlicht, bestehend aus vierzehn Proben verteilt über den See. Sie zeigt, dass im Genfersee 129 Gramm Mikroplastik pro Quadratkilometer an der Oberfläche treiben. Berücksichtigt wurden dabei Teilchen mit Durchmesser zwischen einem und fünf Millimeter. So schwimmen schätzungsweise 14 Millionen Plastikteile dieser Grösse auf dem See. Der Verschmutzungsgrad liegt damit unwesentlich unter dem Durchschnittswert der Weltmeere, welcher bei gerundeten 160 g/km² liegt.

WIBLO-Infografik durch Luisa Morell

Um die Studie zu vervollständigen, wurden im Herbst 2019 36 weitere Proben gesammelt, die zurzeit von Hagmann und seinem Kollegen ausgewertet und analysiert werden. Die Ergebnisse sollen demnächst veröffentlicht werden. Hagmann ist sich jedoch sicher, dass die Befunde die Resultate des letzten Sommers mit minimalen Abweichungen bestätigen werden. Vielmehr ging es darum, eine verlässliche Datenbasis zu schaffen, ausserdem kann die standörtliche Verteilung des Plastiks, bedingt durch Strömungen und Winde, stark schwanken. Mit ausreichend Datenmaterial können so Karten vom See erstellt werden.

Grosse Beachtung in der Öffentlichkeit

Bei den Medien ist die veröffentlichte Vorstudie auf viel Aufmerksamkeit gestossen. In der ganzen Schweiz haben verschiedene Zeitungen und Radio- wie TV-Sender darüber berichtet. Hagmann und Potter hatten den Zeitpunkt ihrer Verlautbarung extra in die Saison fallen lassen, in der sich die Leute viel im und um den See aufhalten und sich am meisten damit identifizieren können. Trotzdem sagt Hagmann: «Wir waren sehr überrascht von der Reaktion der Medien auf unsere Veröffentlichung». Plastik in Schweizer Gewässern ist eigentlich kein neues Thema. Andere Studien haben bereits kleinere Datensätze zu mehreren Seen gesammelt und das Bundesamt für Umwelt weist in Berichten seit mehreren Jahren auf Plastik in nationalen Gewässern und Böden hin.

Infobox: Kleine Plastikkunde
Unter Plastik oder Kunststoff versteht man verschiedene synthetische oder halbsynthetische Polymere, die, meist aus Erdöl, künstlich hergestellt werden. Kunststoffe haben eine sehr lange Zersetzungsdauer und können teilweise mehrere hundert Jahre in der Umwelt bestehen bleiben.
Plastik kann verschiedene Dichten haben. Unter den gebräuchlich verarbeiteten Plastiksorten weisen nur drei eine geringere Dichte als Wasser auf und können daher an der Wasseroberfläche gesammelt werden, nämlich:
Polypropylen (PP)
Polyethylen low density (PE – LD)
Polyethylen hight density (PE-HD)
Alle diese drei Kunststoff-Sorten werden gebräuchlicherweise zur Herstellung von Verpackungsmaterialen (starre Verpackungen, Folien, Kanister, Tuben u.ä.) genutzt. Andere Plastiksorten, wie z.B. PET oder synthetischer Kautschuk von Autoreifen haben eine grössere Dichte als Wasser und sinken.

WIBLO-Infografik durch Luisa Morell

Wo kommt der Kunststoff her?

«Viele Leute denken, das Meer sei verschmutzt, weil andere Länder nicht wissen wie sie mit ihrem Müll umgehen sollen», sagt Hagmann. Deshalb habe es viele Schweizer überrascht zu hören, dass die Verschmutzung des Genfersees im ähnlichen Grössenbereich wie die der Weltmeere liegt. Zwar funktioniere das Abfallmanagement in der Schweiz tatsächlich gut, für die entsprechenden Zahlen gibt es jedoch andere Gründe: Um den See lebt etwa eine Million Menschen auf eine Wasserfläche von 580 Quadratkilometern. Das entspricht einer sehr hohen Besiedlungsdichte. Ausserdem werden in der Schweiz pro Jahr und Kopf rund 100 Kilogramm Plastik erworben, womit wir zu den Verbraucherfreudigsten in Europa gehören. Der Anteil an Verpackungsmaterial, also typischem Einwegplastik, liegt dazu in der Schweiz mit 70 Prozent noch viel höher als in der EU, wo Verpackungen noch einen Anteil von 40 Prozent am konsumierten Kunststoff haben.

Weitere Studien in Planung

Die bisherige Studie konnte leider keinen Aufschluss darüber bringen, woher das gefundene Plastik im Genfersee genau stammt. Bei Mikroplastik handelt es sich oft um Bruchstücke grösserer Kunststoffwaren, die sich unter mechanischem Einfluss zerkleinert haben, weshalb sie schwer zu identifizieren sind. Zwar konnten Schnipsel von Folien und Schaumstoffen ausfindig gemacht werden, welche höchstwahrscheinlich zu Verpackungen gehörten, doch es bleibt schwer zu erkennen von welchen Produkten das Plastik genau stammt und woher es in den See gelangt.

Eine für 2020 geplante Studie soll darüber mehr Klarheit bringen: Am Ausfluss vom See in die Rhone wird neben Mikroplastik auch Meso- und Makroplastik gesammelt werden. Diese Plastikteile haben einen Durchmesser zwischen fünf Millimeter und 50 Zentimeter, dadurch werden ihr Ursprung oder sogar ganze Objekte weitaus öfter zu erkennen sein. Weiss man, welche Sorten von Plastik im See landen, kann man vielleicht auf seine Quellen schliessen und so gezieltere Massnahmen zur Verhinderung treffen.

Mikroplastik-Proben, Bildmaterial von Oceaneye

Mehrfacher Einfluss auf die Umwelt

Schwimmender Plastik verharrt nicht im Seebecken, das Gewässersystem ist durch Flüsse verbunden und dadurch immer in Bewegung. Der Genfersee hat seinen Ausfluss in die Rhone, welche von dort aus ganz Frankreich von Nord nach Süd durchquert und schliesslich ins Mittelmeer mündet. Die Frage wieviel Plastik aus dem See von der Rhone mitgetragen wird, veranlasst Hagmann und Potter dazu, am Ausfluss des Sees zeitgleich eine zweite Studie durchzuführen: Es sollen auch hier Proben von Mikroplastik genommen werden. Über einen Zeitraum von zwölf Monaten wird gemessen, wieviel Milligramm pro Quadratmeter den See verlassen und so prädestiniert sind, in anderen Gewässern zu landen. Voruntersuchungen deuten auf ähnliche Grössenordnungen wie im Bereich des Sees hin (2.12 mg/m3).

„Rund 80 % des Kunststoffs im Genfersee stammt vom Abrieb von Autoreifen.“

Plastik in der Umwelt kann Schäden verursachen, welche im marinen Umfeld bereits weitreichend erforscht sind. Von Tieren geschlucktes Plastik kann beispielsweise zu sperrig sein, um wieder ausgeschieden zu werden und blockiert so die Mägen. Das kann dazu führen, dass unter anderem viele Vögel bei sozusagen «vollem» Magen verhungern. Mülltüten oder Plastikschnüre können Tiere strangulieren oder ersticken. Lebensräume können zerstört werden, weil am Grund lebende Pflanzen von Kunststoffablagerungen bedeckt werden und kein Licht mehr bekommen. Beim Ökosystem See sind die Auswirkungen bisher kaum untersucht, die Wissenschaftler rechnen jedoch mit vergleichbaren Effekten, da sich die beiden Lebensräume in entscheidenden Punkten ähneln.

Infobox: So werden dem See Proben entnommen
Zur Gewinnung von Mikroplastikproben verwenden die Forscher sogenannte Manta-Netze (Grafik, siehe unten), die bei langsamer Fahrgeschwindigkeit über einen bestimmten Zeitraum an der Seite des Bootes hergezogen werden. Ihren Namen haben die Netze dem breiten Metallmaul zu verdanken, welches die obersten fünfzehn Zentimeter der Wasseroberfläche durchstreift und so schwimmende Partikel im daran befestigten Netz sammelt. In diesem befindet sich nach einer solchen Aktion jede Menge organisches Treibgut, Plankton und einige Plastikstückchen.
Im Labor werden die Proben durch Siebe gespült und so gereinigt und nach Grösse aufgeteilt. Das Plastik wird aus dem organischen Material heraussortiert. Danach wir es gewogen und in übersichtliche Kategorien unterteilt, beispielsweise in Fasern, Folien, Schaumstoffe oder unzuordenbare Bruchstücke. So können die Forscher feststellen, wie viel Gramm Mikroplastik pro Quadratkilometer an der Oberfläche des untersuchten Gebiets treiben und wie die Zusammensetzung ist.
Schwimmendes Mikroplastik ist aber bei weitem nicht der einzige Rückstand von Kunststoffen, der in Gewässern zu finden ist. Auch am Ufer, am Grund und in den Organismen eines Gewässers sammelt sich Plastik an, und es gibt auch grössere schwimmende Plastikobjekte (Meso-, Makroplastik usw.). Die Untersuchung von schwimmendem Mikroplastik erweist sich jedoch als nützlicher Wert: Da die Messmethode relativ unkompliziert und kostengünstig ist, existieren bereits Daten aus vielen Gewässern, sodass mit dieser Einheit gut Vergleiche angestellt werden können – so werden die Zahlen erst aussagekräftig.

WIBLO-Infografik eines Manta-Netzes, Luisa Morell

Gefahr für die ganze Nahrungskette

Die grösste Sorge gilt momentan den toxikologischen Folgen, welche mutmasslich von Plastik ausgehen. Kunststoffe enthalten teilweise Zusatzstoffe, zum Beispiel Brandverzögerer oder Weichmacher, die stark gesundheitsschädigend sind. Besonders in älterem Kunststoff, dessen Herstellung noch keinen strengen Auflagen unterlag, ist in unvorhersehbaren Mengen damit zu rechnen. Ein Faktor, der unbedingt in Betracht gezogen werden sollte, da sich das Plastik im Wasser seit Beginn nur akkumuliert und nicht abbaut. Im Labor der EPFL Lausanne wird momentan mit eigens entwickelten, künstlichen Mägen untersucht, ob sich solche Schadstoffe durch die aggressiven Verdauungssäfte aus dem Plastik lösen können. Zudem besitzt Kunststoff die Eigenschaft, im Wasser gelöste Chemikalien wie Pestizide etc. zu binden und so Giftstoffe an seiner Oberfläche zu konzentrieren. Beide Varianten können schwerwiegende Folgen nach sich ziehen: Wird das toxische Plastik von kleinen Lebewesen, wie zum Beispiel Plankton eingenommen, gelangen die Gifte in die gesamte Nahrungskette.

WIBLO-Infografik Kunststoff im Genfersee durch Luisa Morell

An der Oberfläche treibt nur die Spitze des Eisbergs

Plastik findet sich im See nicht nur an der Oberfläche, es ist auch an den Ufern, am Grund und in den Organismen zu finden, welche im und ums Gewässer leben. Eine Studie aus der Westschweiz (Boucher et al., 2019) schliesst aus mathematischen Vorhersagen, dass sich im Genfersee etwa 600 Tonnen Plastik befinden müssten. 83 Prozent davon stammen laut Hochrechnungen vom Abrieb von Autoreifen – kleinste Partikel, die durch ihre Dichte sinken und sich am Seegrund ablagern. Teilchen also, die bis jetzt nicht in die Studie von Oceaneye eingeflossen und auch sonst aus Gründen der Machbarkeit noch nie empirisch untersucht worden sind. Verpackungsmaterial macht dagegen nur einen errechneten Anteil von sechs Prozent aus und Textilwaren oder Rückstände aus der Bauindustrie gerade mal noch drei Prozent bzw. zwei Prozent. Weitere sieben Kategorien wie Kosmetik oder Landwirtschaft etc. teilen sich die restlichen sechs Prozent. Dass Oceaneye sich für die Untersuchung des Oberflächenplastiks entschieden hat, liegt wie gesagt an der recht einfachen Testbarkeit und der guten Vergleichbarkeit dieser Daten, bietet jedoch keinen totalen Blick aufs Ausmass der Verschmutzung. Bouchers Studie zeigt, dass noch mit weitaus grösseren Plastikmengen zu rechnen ist, als man es nach den Zahlen von Oceaneye erwarten könnte.

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In unseren Weltmeeren und Binnengewässern befinden sich Plastikabfälle – so viel ist bekannt. Wie viel Plastik das genau ist, ist momentan jedoch noch äusserst schwierig zu sagen. Pascal Hagman, Leiter der Genfer Organisation Oceaneye und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Gaël Potter haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Datenlage zu verbessern: «Zur Zeit unserer Gründung sprachen einige Journalisten von Müllwirbeln oder dem Plastikkontinent und solchen Dingen. Doch beim Blick in verschiedene Studien stellten wir fest, dass die Anzahl der Daten sehr limitiert ist, also haben wir die Forscher kontaktiert und eigentlich immer die gleiche Antwort erhalten: ‹Es besteht ein grosser Bedarf an Daten».

Oceaneye ist eine wissenschaftliche Organisation, die mit Seglern überall in der Welt Kontakt aufnimmt, um mehr über das Mikroplastik zu erfahren, das auf unseren Meeren treibt. Sie helfen den Freiwilligen, die Schiffe mit wissenschaftlichem Equipment auszustatten und lassen die Seefahrenden anschliessend auf ihren Routen Proben sammeln. Die Tests werden danach im Genfer Labor ausgewertet. Auf der Website von Oceaneye ist eine Weltkarte veröffentlicht, auf welcher der Verschmutzungsgrad der bereits untersuchten Gewässerzonen markiert ist.

Informieren ist essentiell

Die Information einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen gehört ebenfalls zum Konzept von Oceaneye. Auf ihrer Website betonen sie, dass die Weitergabe von Daten wichtig ist, um sich unter Wissenschaftlern auszutauschen und die Bevölkerung auf Problematiken hinzuweisen. Deshalb speisen sie ihre Erkenntnisse in die wissenschaftliche Datenbank GRID des Umweltprogramms der UNO ein, und betreiben verschiedene Projekte zur Sensibilisierung der Bevölkerung. Sie halten Vorträge an öffentliche Veranstaltungen, geben Unterricht in Schulen, führen eine Ausstellung über Kunststoffabfälle im Meer und stehen den Medien mit Fachwissen zur Verfügung.

Studie lanciert

Ab Anfang 2019 hat Oceaneye den Fokus auf ein lokales Gewässer umgeschwenkt und die Mengen von schwimmendem Mikroplastik im Genfersee untersucht. Pünktlich zur Badesaison wurde die Vorstudie veröffentlicht, bestehend aus vierzehn Proben verteilt über den See. Sie zeigt, dass im Genfersee 129 Gramm Mikroplastik pro Quadratkilometer an der Oberfläche treiben. Berücksichtigt wurden dabei Teilchen mit Durchmesser zwischen einem und fünf Millimeter. So schwimmen schätzungsweise 14 Millionen Plastikteile dieser Grösse auf dem See. Der Verschmutzungsgrad liegt damit unwesentlich unter dem Durchschnittswert der Weltmeere, welcher bei gerundeten 160 g/km² liegt.

WIBLO-Infografik durch Luisa Morell

Um die Studie zu vervollständigen, wurden im Herbst 2019 36 weitere Proben gesammelt, die zurzeit von Hagmann und seinem Kollegen ausgewertet und analysiert werden. Die Ergebnisse sollen demnächst veröffentlicht werden. Hagmann ist sich jedoch sicher, dass die Befunde die Resultate des letzten Sommers mit minimalen Abweichungen bestätigen werden. Vielmehr ging es darum, eine verlässliche Datenbasis zu schaffen, ausserdem kann die standörtliche Verteilung des Plastiks, bedingt durch Strömungen und Winde, stark schwanken. Mit ausreichend Datenmaterial können so Karten vom See erstellt werden.

Grosse Beachtung in der Öffentlichkeit

Bei den Medien ist die veröffentlichte Vorstudie auf viel Aufmerksamkeit gestossen. In der ganzen Schweiz haben verschiedene Zeitungen und Radio- wie TV-Sender darüber berichtet. Hagmann und Potter hatten den Zeitpunkt ihrer Verlautbarung extra in die Saison fallen lassen, in der sich die Leute viel im und um den See aufhalten und sich am meisten damit identifizieren können. Trotzdem sagt Hagmann: «Wir waren sehr überrascht von der Reaktion der Medien auf unsere Veröffentlichung». Plastik in Schweizer Gewässern ist eigentlich kein neues Thema. Andere Studien haben bereits kleinere Datensätze zu mehreren Seen gesammelt und das Bundesamt für Umwelt weist in Berichten seit mehreren Jahren auf Plastik in nationalen Gewässern und Böden hin.

Infobox: Kleine Plastikkunde
Unter Plastik oder Kunststoff versteht man verschiedene synthetische oder halbsynthetische Polymere, die, meist aus Erdöl, künstlich hergestellt werden. Kunststoffe haben eine sehr lange Zersetzungsdauer und können teilweise mehrere hundert Jahre in der Umwelt bestehen bleiben.
Plastik kann verschiedene Dichten haben. Unter den gebräuchlich verarbeiteten Plastiksorten weisen nur drei eine geringere Dichte als Wasser auf und können daher an der Wasseroberfläche gesammelt werden, nämlich:
Polypropylen (PP)
Polyethylen low density (PE – LD)
Polyethylen hight density (PE-HD)
Alle diese drei Kunststoff-Sorten werden gebräuchlicherweise zur Herstellung von Verpackungsmaterialen (starre Verpackungen, Folien, Kanister, Tuben u.ä.) genutzt. Andere Plastiksorten, wie z.B. PET oder synthetischer Kautschuk von Autoreifen haben eine grössere Dichte als Wasser und sinken.

WIBLO-Infografik durch Luisa Morell

Wo kommt der Kunststoff her?

«Viele Leute denken, das Meer sei verschmutzt, weil andere Länder nicht wissen wie sie mit ihrem Müll umgehen sollen», sagt Hagmann. Deshalb habe es viele Schweizer überrascht zu hören, dass die Verschmutzung des Genfersees im ähnlichen Grössenbereich wie die der Weltmeere liegt. Zwar funktioniere das Abfallmanagement in der Schweiz tatsächlich gut, für die entsprechenden Zahlen gibt es jedoch andere Gründe: Um den See lebt etwa eine Million Menschen auf eine Wasserfläche von 580 Quadratkilometern. Das entspricht einer sehr hohen Besiedlungsdichte. Ausserdem werden in der Schweiz pro Jahr und Kopf rund 100 Kilogramm Plastik erworben, womit wir zu den Verbraucherfreudigsten in Europa gehören. Der Anteil an Verpackungsmaterial, also typischem Einwegplastik, liegt dazu in der Schweiz mit 70 Prozent noch viel höher als in der EU, wo Verpackungen noch einen Anteil von 40 Prozent am konsumierten Kunststoff haben.

Weitere Studien in Planung

Die bisherige Studie konnte leider keinen Aufschluss darüber bringen, woher das gefundene Plastik im Genfersee genau stammt. Bei Mikroplastik handelt es sich oft um Bruchstücke grösserer Kunststoffwaren, die sich unter mechanischem Einfluss zerkleinert haben, weshalb sie schwer zu identifizieren sind. Zwar konnten Schnipsel von Folien und Schaumstoffen ausfindig gemacht werden, welche höchstwahrscheinlich zu Verpackungen gehörten, doch es bleibt schwer zu erkennen von welchen Produkten das Plastik genau stammt und woher es in den See gelangt.

Eine für 2020 geplante Studie soll darüber mehr Klarheit bringen: Am Ausfluss vom See in die Rhone wird neben Mikroplastik auch Meso- und Makroplastik gesammelt werden. Diese Plastikteile haben einen Durchmesser zwischen fünf Millimeter und 50 Zentimeter, dadurch werden ihr Ursprung oder sogar ganze Objekte weitaus öfter zu erkennen sein. Weiss man, welche Sorten von Plastik im See landen, kann man vielleicht auf seine Quellen schliessen und so gezieltere Massnahmen zur Verhinderung treffen.

Mikroplastik-Proben, Bildmaterial von Oceaneye

Mehrfacher Einfluss auf die Umwelt

Schwimmender Plastik verharrt nicht im Seebecken, das Gewässersystem ist durch Flüsse verbunden und dadurch immer in Bewegung. Der Genfersee hat seinen Ausfluss in die Rhone, welche von dort aus ganz Frankreich von Nord nach Süd durchquert und schliesslich ins Mittelmeer mündet. Die Frage wieviel Plastik aus dem See von der Rhone mitgetragen wird, veranlasst Hagmann und Potter dazu, am Ausfluss des Sees zeitgleich eine zweite Studie durchzuführen: Es sollen auch hier Proben von Mikroplastik genommen werden. Über einen Zeitraum von zwölf Monaten wird gemessen, wieviel Milligramm pro Quadratmeter den See verlassen und so prädestiniert sind, in anderen Gewässern zu landen. Voruntersuchungen deuten auf ähnliche Grössenordnungen wie im Bereich des Sees hin (2.12 mg/m3).

„Rund 80 % des Kunststoffs im Genfersee stammt vom Abrieb von Autoreifen.“

Plastik in der Umwelt kann Schäden verursachen, welche im marinen Umfeld bereits weitreichend erforscht sind. Von Tieren geschlucktes Plastik kann beispielsweise zu sperrig sein, um wieder ausgeschieden zu werden und blockiert so die Mägen. Das kann dazu führen, dass unter anderem viele Vögel bei sozusagen «vollem» Magen verhungern. Mülltüten oder Plastikschnüre können Tiere strangulieren oder ersticken. Lebensräume können zerstört werden, weil am Grund lebende Pflanzen von Kunststoffablagerungen bedeckt werden und kein Licht mehr bekommen. Beim Ökosystem See sind die Auswirkungen bisher kaum untersucht, die Wissenschaftler rechnen jedoch mit vergleichbaren Effekten, da sich die beiden Lebensräume in entscheidenden Punkten ähneln.

Infobox: So werden dem See Proben entnommen
Zur Gewinnung von Mikroplastikproben verwenden die Forscher sogenannte Manta-Netze (Grafik, siehe unten), die bei langsamer Fahrgeschwindigkeit über einen bestimmten Zeitraum an der Seite des Bootes hergezogen werden. Ihren Namen haben die Netze dem breiten Metallmaul zu verdanken, welches die obersten fünfzehn Zentimeter der Wasseroberfläche durchstreift und so schwimmende Partikel im daran befestigten Netz sammelt. In diesem befindet sich nach einer solchen Aktion jede Menge organisches Treibgut, Plankton und einige Plastikstückchen.
Im Labor werden die Proben durch Siebe gespült und so gereinigt und nach Grösse aufgeteilt. Das Plastik wird aus dem organischen Material heraussortiert. Danach wir es gewogen und in übersichtliche Kategorien unterteilt, beispielsweise in Fasern, Folien, Schaumstoffe oder unzuordenbare Bruchstücke. So können die Forscher feststellen, wie viel Gramm Mikroplastik pro Quadratkilometer an der Oberfläche des untersuchten Gebiets treiben und wie die Zusammensetzung ist.
Schwimmendes Mikroplastik ist aber bei weitem nicht der einzige Rückstand von Kunststoffen, der in Gewässern zu finden ist. Auch am Ufer, am Grund und in den Organismen eines Gewässers sammelt sich Plastik an, und es gibt auch grössere schwimmende Plastikobjekte (Meso-, Makroplastik usw.). Die Untersuchung von schwimmendem Mikroplastik erweist sich jedoch als nützlicher Wert: Da die Messmethode relativ unkompliziert und kostengünstig ist, existieren bereits Daten aus vielen Gewässern, sodass mit dieser Einheit gut Vergleiche angestellt werden können – so werden die Zahlen erst aussagekräftig.

WIBLO-Infografik eines Manta-Netzes, Luisa Morell

Gefahr für die ganze Nahrungskette

Die grösste Sorge gilt momentan den toxikologischen Folgen, welche mutmasslich von Plastik ausgehen. Kunststoffe enthalten teilweise Zusatzstoffe, zum Beispiel Brandverzögerer oder Weichmacher, die stark gesundheitsschädigend sind. Besonders in älterem Kunststoff, dessen Herstellung noch keinen strengen Auflagen unterlag, ist in unvorhersehbaren Mengen damit zu rechnen. Ein Faktor, der unbedingt in Betracht gezogen werden sollte, da sich das Plastik im Wasser seit Beginn nur akkumuliert und nicht abbaut. Im Labor der EPFL Lausanne wird momentan mit eigens entwickelten, künstlichen Mägen untersucht, ob sich solche Schadstoffe durch die aggressiven Verdauungssäfte aus dem Plastik lösen können. Zudem besitzt Kunststoff die Eigenschaft, im Wasser gelöste Chemikalien wie Pestizide etc. zu binden und so Giftstoffe an seiner Oberfläche zu konzentrieren. Beide Varianten können schwerwiegende Folgen nach sich ziehen: Wird das toxische Plastik von kleinen Lebewesen, wie zum Beispiel Plankton eingenommen, gelangen die Gifte in die gesamte Nahrungskette.

WIBLO-Infografik durch Luisa Morell

An der Oberfläche treibt nur die Spitze des Eisbergs

Plastik findet sich im See nicht nur an der Oberfläche, es ist auch an den Ufern, am Grund und in den Organismen zu finden, welche im und ums Gewässer leben. Eine Studie aus der Westschweiz (Boucher et al., 2019) schliesst aus mathematischen Vorhersagen, dass sich im Genfersee etwa 600 Tonnen Plastik befinden müssten. 83 Prozent davon stammen laut Hochrechnungen vom Abrieb von Autoreifen – kleinste Partikel, die durch ihre Dichte sinken und sich am Seegrund ablagern. Teilchen also, die bis jetzt nicht in die Studie von Oceaneye eingeflossen und auch sonst aus Gründen der Machbarkeit noch nie empirisch untersucht worden sind. Verpackungsmaterial macht dagegen nur einen errechneten Anteil von sechs Prozent aus und Textilwaren oder Rückstände aus der Bauindustrie gerade mal noch drei Prozent bzw. zwei Prozent. Weitere sieben Kategorien wie Kosmetik oder Landwirtschaft etc. teilen sich die restlichen sechs Prozent. Dass Oceaneye sich für die Untersuchung des Oberflächenplastiks entschieden hat, liegt wie gesagt an der recht einfachen Testbarkeit und der guten Vergleichbarkeit dieser Daten, bietet jedoch keinen totalen Blick aufs Ausmass der Verschmutzung. Bouchers Studie zeigt, dass noch mit weitaus grösseren Plastikmengen zu rechnen ist, als man es nach den Zahlen von Oceaneye erwarten könnte.

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Autorin

Jael Bieri

Illustratorin

Luisa Morell

Experte Oceaneye

Pascal Hagmann

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